Selbstorganisation in der Alten- und Krankenpflege

Selbstorganisation ist in Mode. Zahlreiche Modelle beschäftigen Fachwelt und Führungskräfte. Wie Selbstorganisation in einer Gesundheitsorganisation konkret aussehen kann, zeigt das Beispiel der Spitex Zürich Limmat AG.

 

Auf dem Organigramm, das Karin Koch-Haug am Bildschirm aufruft, fehlt bei vielen Einheiten der Name der Leitungsperson. «Diese Spitex-Zentren werden von den Teams selbst geführt», bestätigt die Pflegefachfrau des Zentrums Schwamendingen der Spitex Zürich Limmat AG. Ursprünglich waren die selbstorganisierten Teams als einmaliger Pilotversuch im Zentrum Schwamendingen gedacht. Das Vorbild lieferte der niederländische Pflegeanbieter «Buurtzorg» (vgl. vorangehenden Artikel). An den ersten Informationsveranstaltungen zum Pilotversuch habe sich gezeigt, dass viele Mitarbeitende trotz anfänglicher Zweifel und offener Fragen bei diesem Projekt mitmachen wollten, erinnert sich die Pflegefachfrau Heike Hustig, die den Pilotversuch in Schwamendingen von Beginn an miterlebt hatte. Seit 2018 stellt die Spitex Zürich Limmat AG schrittweise alle ihre Spitex-Zentren auf selbstorganisierte Teams um. In diesem Jahr sollen die letzten drei Zentren folgen. Der Auslöser für die Umstellung sei unter anderem die Kundenzufriedenheit gewesen, wie Heike Hustig berichtet: «Wir wollten die Kontinuität erhöhen, sodass die Kunden nach Möglichkeit stets von der gleichen Person gepflegt werden.» Dies sei einfacher, wenn die Einsatzplanung im dafür verantwortlichen Team erfolge.

Die Freiheit der Teams

Heute entscheiden die Teams fast alle operativen Angelegenheiten selbst. Zentrumsleitungen oder Teamleitungen für Koordination gibt es keine mehr. So haben die Teams des Zentrums Schwamendingen «ihr Quartier» unter sich aufgeteilt, dessen Pflegekunden sie nun selbstständig betreuen. Damit sind gleichzeitig die Zuständigkeiten für die Kundenbetreuung geklärt. Management-Aufgaben wie Planung (Einsatz- und Dienstpläne) oder Finanzen (Budget, Auslastung) sind auf einzelne Rollen (Chargen) im Team verteilt. Diese Rollen sind bei allen Teams anzutreffen, darüber hinaus kann ein Team weitere Rollen schaffen. Im Zentrum Schwamendingen kümmert sich etwa ein Teammitglied eigens um Bewerbungen. Und natürlich entscheidet am Ende das Team, welche Person es einstellen will.

Vollständig selbstorganisiert arbeitet die Spitex Zürich Limmat AG allerdings nicht. Es gibt noch eine zentrale Leitung für das gesamte Unternehmen sowie ein Support-Center. Dieses gewährleistet wichtige Unterstützungsfunktionen wie Finanzen, IT oder Immobilien. Diese Fragen müssten zentral gelöst werden, weil sie komplex seien oder wegen der Effizienz, wie Christina Brunnschweiler, CEO der Spitex Zürich Limmat AG, erklärt. Die gesetzlichen Anforderungen seien in der Schweiz komplexer als in den Niederlanden, meint sie mit Blick auf das Vorbild Buurtzorg.

Ausserdem gibt die Leitung nebst der Basisinfrastruktur die Produktivität (verrechenbare Stunden) und die Qualitätsstandards vor. Die einzelnen Spitexzentren werden also über Ziele und Rahmenbedingungen gesteuert. Christina Brunnschweiler verwendet dabei das Bild der möblierten Wohnung, die den Teams zur Verfügung gestellt werde. Haushalten müssten die Teams aber selbst. Unterstützt werden sie dabei von unterschiedlichen Coaches. Der HR-Coach hilft bei Personalfragen und übernimmt die Vorselektion bei Rekrutierungen. Der Projekt- Coach berät bei Strukturfragen und die Qualitätsverantwortliche unterstützt die Teams bei der Qualitätssicherung. Zur eigenen Rolle als CEO meint Christina Brunnschweiler: «Es braucht eine Instanz, die Orientierung gibt und den Rahmen setzt. Zudem trete ich als Ansprechperson gegen aussen auf, etwa bei Verträgen und Kostengutsprachen.»

Eine Bilanz

Mit der Umstellung übernehmen die Mitarbeitenden Verantwortung für Themen, die sonst Vorgesetzte tragen. Selbst um die Geburtstagskarten für Kundinnen und Kollegen kümmert sich nun ein Teammitglied. Dies setze Pflichtbewusstsein voraus, betont Karin Koch-Haug. «Deswegen haben auch Mitarbeitende gekündigt. Es gibt halt Leute, die möchten nur ihre Arbeit erledigen und sich nicht um den Betrieb kümmern», folgert die Pflegefachfrau. Dennoch sei die Fluktuation relativ gering geblieben.

Viele Führungskräfte mussten sich im Betrieb eine neue Rolle suchen. Einige wurden Coaches. So arbeitet eine ehemalige Zentrumsleiterin heute als Projekt-Coach. Andere Führungskräfte haben das Unternehmen verlassen. Es gab individuelle Pläne für die Umstellung. Die Führungskräfte wurden frühzeitig informiert, sodass sich die meisten darauf einstellen konnten. Die schrittweise Einführung mit einem Pilotzentrum habe sich bewährt, urteilt Karin Koch-Haug im Rückblick. Eine gleichzeitige Umstellung des gesamten Unternehmens auf Selbstorganisation sei wegen des Zeitbedarfs unrealistisch. «Trotz grossem Enthusiasmus benötigten wir eine Eingewöhnungszeit», erklärt sie. So wurden Management-Aufgaben erst nach und nach aus den alten Stellen auf die Teams verteilt. Dafür gab es Unterstützung durch Coaches, die auch die zahlreichen Sitzungen moderierten.

Erkenntnisse für andere Unternehmen

Die Spitex Zürich Limmat AG hat sich für einen pragmatischen Weg entschieden und die Balance zwischen reiner Lehre der Selbstorganisation und den Möglichkeiten vor Ort gesucht. Das unterscheidet sie von einem Start-up, das seine Organisation von Grund auf neu aufbauen kann. Verschiedene Stimmen aus der Fachwelt bestätigen den Weg der Spitex Zürich Limmat AG, indem sie Unternehmen raten, eine eigene, massgeschneiderte Form der Selbstorganisation zu finden. Nicht zuletzt können regulatorische Anforderungen die Möglichkeiten der Selbstorganisation begrenzen. Hier sind andere Branchen, etwa die IT oder die Medien, gegenüber dem Gesundheitssektor im Vorteil. Zum pragmatischen Weg der Spitex Zürich Limmat AG gehört die schrittweise Umstellung, weil das Unternehmen erst Erfahrungen mit der neuen Organisationsform sammeln wollte. Dies geschah ganz im Zeichen der kontinuierlichen Verbesserung, was einen gewissen Aufwand für Kommunikation und Reflexion erforderte. Dieses Vorgehen hat den Vorteil, dass sich die restlichen Zweige des Unternehmens die Pilotteams zum Vorbild nehmen und von ihrem Know-how profitieren können.

Das Beispiel der Spitex Zürich Limmat AG zeigt ausserdem, worin der Nutzen der Selbstorganisation bestehen kann: in einer Steigerung der Kundenzufriedenheit und einer erhöhten Motivation der Mitarbeitenden. Für die Kunden resultierte ein Qualitätsgewinn, wie Umfragen und persönliche Rückmeldungen belegen. Die Pflegekunden haben nun stets dieselbe Ansprechperson und können sie über eine Team-Telefonnummer direkt erreichen. Es besteht die Möglichkeit, auf individuelle Kundenwünsche schnell und flexibel einzugehen. «Aber auch die Zufriedenheit im Team ist gestiegen», bestätigt Karin Koch-Haug. «Wir haben viel mehr Gestaltungsmöglichkeiten. Zudem stärkt es den Zusammenhalt im Team, wenn wir zum Beispiel unsere Leute selbst rekrutieren können.» Ungeachtet des Aufwands bei der Umstellung wollen weder Karin Koch-Haug noch Heike Hustig zur alten Struktur zurück.

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