Standards stärken die agile Transformation

Die rasante Entwicklung in der Informatik ist Treiber des zunehmend beschleunigten Wandels der Gesellschaft, der Märkte, der globalen Wirtschaftsordnung. Unsere Arbeitswelt ist VUCA geworden. VUCA steht für Volatilität (Volatility), Ungewissheit (Uncertainty), Komplexität (Complexity) und Mehrdeutigkeit (Ambiguity). Um als Unternehmen bestehen zu können, müssen Organisationen, ihre Unternehmenskul-turen und Führung sich der Arbeitswelt 4.0 stellen. In einer mehrteiligen Artikelserie gehen die Autoren der Frage nach, wie Qualitätsmanagement im Zeitalter der Agilität aussehen könnte.

Standards stärken die agile Transformation

 

 

Die Konsequenzen der VUCA-Welt sind wei-ter steigende Dynamik und Komplexität in Unternehmen. Eine Rahmenbedingung, die einschätzen lässt, dass künftige Management-systeme die Organisationen zum Überleben in komplexem Umfeld auch in dieser Hinsicht befähigen werden müssen. Dies zieht selbst-redend mit sich, dass neue Vorgehensweisen und Methoden herangezogen werden müs-sen. Eine Form, diesen Herausforderungen der VUCA-Welt und dem Megatrend Digitali-sierung zu begegnen, bieten agile Denk- und Handlungsweisen. Zeit also, Agilität im Kon-text des Qualitätsmanagements zu verstehen und sich mit der Frage über die Zukunft und Auswirkungen auseinanderzusetzen.

 

Das Modell «AGIL» aus der Systemtheo-rie, welches bereits in den 1950ern durch den Soziologen Talcott Parsons entstand, setzt sich aus vier nachstehenden Fähigkeiten ei-ner Organisation zusammen und wird heute mit Attributen wie flexibel, aktiv, anpas-sungsfähig und mit Initiative auf Wandel gleichgestellt.

 

  • Adaption: Anpassung an Veränderungen
  • Goal Attainment: Ziele definieren und ver-folgen
  • Integration: Zusammenhalt herstellen und absichern
  • Latency: Aufrechterhaltung von grundle-genden Strukturen und Werten

 

Betrachtet man die Bestrebungen hinter diesem Modell, ist leicht zu erkennen, dass Qualitätsmanagement-Prinzipien und Me-thoden auf einem ähnlichen Fundament auf-bauen. Doch bereits hier beginnen auch die ersten Inkonsequenzen, was die Anwendung in der Praxis betrifft. Bevor diese Themen un-ter Kapitel «Verändertes Führungsverständ-nis/Wertorientierung» vertieft durchleuchtet werden, ist es wichtig, zu verstehen, was Digi-talisierung bedeutet, warum sie Auswirkun-gen auf Managementsysteme hat und womit es verwechselt wird.

Empirische Prozesse und Agilität
In der Produktion sind die Ansätze von Lean zur Reduktion von Durchlaufzeiten oder gebundenem Kapital in Lagern seit Langem als Mittel zur Steigerung der Agilität bekannt, verstanden und im Einsatz. Die Bewegung der agilen Software-Entwicklung aus den 90erJahren hat eine neue Begeisterung für die Gestaltung von empirischen Prozessen hervorgerufen. Empirische1 oder eben nicht-deterministische2 Prozesse zeichnen sich durch offenen Resultatausgang aus. Kreative Prozesse oder Entwicklungsprozesse sind typische Vertreter empirischer Prozesse. Im Qualitätsmanagement ist der kontinuierliche Verbesserungsprozess (KVP) ein gutes Beispiel für einen empirischen Prozess. Resultat-offener Ausgang heisst, dass für eine bestimmte Absicht das Resultat – die Lösung nicht vorhersehbar ist. Eine Werbeagentur kann verlässlich einen neuen Markenauftritt entwickeln. Das konkrete Resultat, das dabei entsteht – die konkrete Marke –, ist jedoch nicht vorherseh-bar. Auch ergibt der gleiche Kreativprozess bei jeder Ausführung ein potenziell anderes Re-sultat. Im Gegensatz dazu sind die Resultate eines deterministischen Prozesses wie zum Beispiel ein Produktionsvorgang identisch oder zumindest vorhersehbar. Qualitätsma-nagement setzt unter anderem auf Kontrolle der Erstellungsprozesse, um die Qualität der Resultate, der erstellten Produkte, sicherzu-stellen. Liegt der Erstellung ein empirischer Prozess, zum Beispiel ein kreativer Prozess, zugrunde, kann die Qualität der Resultate nicht durch Kontrolle der Prozessausführung alleine sichergestellt werden.

 

Die Beschreibung und bewusste Gestal-tung empirischer Prozesse reicht weiter zurück als die 90er-Jahre. Design Thinking – ein empi-rischer Prozess zur Produktentwicklung – zum

 

«Ein Merkmal agiler Methoden ist fachübergreifendes Arbeiten in selbstorganisierten Teams.»

 

Beispiel wurde vor über fünfzig Jahren entwi-ckelt und beschrieben. Ein typisches Merkmal empirischer Prozesse ist das schrittweise oder iterative Vorgehen analog dem stetigen Durch-laufen des KVP-Prozesses. Im Vergleich zu etab-lierten, empirischen Prozessen zeichnen sich die neun agilen Prozesse durch eine hohe Ka-denz dieser Iterationen aus. Von Iterationen im 15-Minuten-Takt in Lean Startup hinzu ein oder zwei Wochen in Scrum in der Software-Entwicklung. Ernsthaft betriebenes Qualitäts-management muss eine solche hohe Kadenz von Iterationen absorbieren können.

 

Ein weiteres typisches Merkmal der agilen Methoden ist fachübergreifendes Ar-beiten in selbstorganisierten Teams. Dies ba-siert auf der Überzeugung, dass die kollektive Intelligenz im Team jeder Einzelleistung von Experten überlegen ist. Selbstorganisierte Teams brauchen eine andere Form von Füh-rung. So geht die Einführung agiler Metho-den mit einer Verlagerung von Management hin zu Leadership einher und versteht sich ganz im Sinne des ISO-Modells mit Führung als zentrale Drehscheibe. Eine agile Transfor-mation schliesslich ist die aktive, Neu- und Umgestaltung einer Organisation auf agile Arbeitsweisen. Mit der Transformation ein-her geht ein Wandel des entsprechenden Führungsverständnisses.

Strategie und gemeinsame Grundlagen
Um ein Managementsystem auszurichten, setzt das Qualitätsmanagement ein hohes Mass an Effektivität voraus. Effektivität be-ginnt mit der Frage, welche zukunftsträchti-gen Unternehmungsziele das Unternehmen nachhaltig zum Erfolg führen und der Hand-lungsbedarf, der daraus werden soll. Diese werden aus den Geschäftsprozessen und stra-tegischen Projekten abgeleitet und im Tages-geschäft verfolgt. Gemeinsame, handlungs-leitende Planken stellen dabei die strategi-schen Grundlagen wie Vision, Mission und Leitbild dar.

 

Für die Entwicklung einer Strategie zählt also das Wahrscheinliche, das, was aller Voraussicht nach, und zwischen allen mögli-chen Szenarien, ambitiös und trotzdem reali-sierbar ist. Die Gegenwart verläuft jedoch nicht in einer geraden Linie weiter in die Zu-kunft. Auch Finanzkennzahlen alleine bli-cken nicht nach vorn; erst die intelligente Verbindung von harten mit den weichen Fak-toren – zum Beispiel Lernkraft einer Organi-sation etc. –, ermöglicht eine starke Prognose-kraft sowie die Entwicklung einer robusten Unternehmensstrategie.

 

Bleiben wir zunächst beim Strategie-entwicklungsprozess, wodurch Unterneh-mungsziele entstehen. In der Strategiearbeit geht es in erster Linie darum, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Entscheidungen darüber, wo und wie man gegenüber dem Wettbewerb langfristig erfolgreich agieren und bestehen kann. Dies setzt ein Verständ-nis über sich ändernde Markterfordernisse wie Digitalisierung (Kapitel 4.1, Verstehen der Organisation und ihres Kontextes) vor-aus. Die Arbeit erfolgt schrittweise mit manu-eller Analyse- und Planungsarbeit und wird danach im Managementsystem weitestge-hend mit starren Methoden erarbeitet und implementiert.

 

In agilen Vorgehensweisen wird das Verständnis für Kontext/Trends und Er-kenntnisse aus vorangegangenen Iterationen deutlich stärker beachtet. Der Unterschied liegt demnach darin, dass agile Ansätze die Anwendung der Methodik lösungsneutraler und den Fortschritt in sich erst möglich ma-chen. Sie beruhen auf einfachen, leichtge-wichtigen Methoden, die im Gegensatz zu den schwergewichtigen Strategieentwick-lungsprozessen (mit Instrumenten wie der Strategy Map) ebenfalls ein klares Fernziel (Vision) in kleinen Schritten iterativ umset-zen. Das bedeutet, ein quantifiziertes Fern-ziel erlaubt einzelnen Teams, Teile der Strate-gie autonom und selbstorganisiert zu verfol-gen. Die so erzielte Skalierung über die Orga-nisation kann die kollektive Intelligenz aller aktivieren und Schwarm-Intelligenz zunutze machen.

 

Das klingt für manche Unterneh-mungsführung bereits so, als wenn die ge-samte Entwicklungsarbeit mit der jüngeren Herangehensweise chaotisch verläuft. Es kann als eine Denk- und Vorgehensweise ge-

 

«Mut alleine genügt nicht.»

 

deutet werden, die bisher als «Verzögerung durch Abweichungen» verstanden wurde. Doch in der schrittweisen Herangehensweise mit Rückkoppelung – in der agilen Welt als Iteration bezeichnet – wird der Erfolg ver-sprochen. Statt mit starren Prozessen auf Kurs zu fahren, arbeitet man lediglich bis auf Sichtweite und mit den bereits bis dahin ge-sammelten Erkenntnissen. Es geht darum, mit den richtigen Leuten zur richtigen Zeit zu sprechen und in kleinen Schritten nach dem Richtigen (Effektivität) zu schöpfen. Die klei-nen Schritte mit den Feedback- und Lern-schlaufen und den damit verbundenen (kur-zen) Irrwegen mögen im Vergleich zu einem linear abgearbeiteten Plan als aufwendiger und dadurch kostspieliger wirken. Doch frühzeitig zu akzeptieren, wenn etwas nicht

 

«Agile Vorgehensweisen richten sich nach dem zu erfüllenden Zweck.»

 

funktioniert, bedeutet auch, Ressourcen für die richtigen und wichtigen Projekte zu ge-winnen. Iteration hilft also, kontinuierlich die richtigen Dinge richtig zu tun – analog dem KVP-Gedanken aus dem Qualitätsma-nagement.

Scoping
Ein weiterer Vorteil aus agilen Vorgehenswei-sen ist das Scoping. Anders als die ISO 9001:2015, das nicht mit der Bezeichnung von Branchenzuordnungen (EAC-Branchen-schlüssel, Ausmass/Bereich eines gegebenen Audits) bei der Zertifizierung zu verwechseln ist, versteht man in agilen Projektteams unter Scoping die Fähigkeit, die Aufgabe als geziel- tes Lernen in kleinen Schritten zu verstehen. Ziel ist, ein gemeinsames und präzises Verständnis über das eigentliche Problem zu erhalten, um dann die Zielsetzung (für Produkte oder Dienstleistungen) mög-lichst korrekt zu formulieren und anzustreben. Und wie auch das drit-te Qualitätsmanagement-Prinzip die «Einbeziehung von Beteiligten» fordert, verspricht man sich mit der sogenannten Co-creation bessere Produkte und Lösungen. Dabei werden ebenfalls Anspruchsgruppen, potenzielle Nutzer, Partner oder weitere Befähiger/Betroffene in den Entstehungsprozess von der Minute null an involviert. Um schnell ein Gefühl für die Güte und Belastbarkeit einer Idee zu bekommen und Ergebnisse in kürzester Zeit greifbar zu machen, werden nutzenstif-tende Prototypen erstellt. Dabei wird eine erste Version der Leistungs-erbringung vorgestellt, anschliessend­ sofort hinterfragt und auf Basis des Feedbacks weiterentwickelt und verbessert, bis ein gewünschtes Ergebnis erreicht ist. Was anfänglich unverfänglich klingt, erfordert aufgrund der vorausgesetzten Geschwindigkeit, Komplexität und Er-gebnisoffenheit einen besonders systematischen und ernsthaften Pro-zess. Sie spielen sozusagen ihre Stärke zu herkömmlichen Vorgehens-weisen dort aus, wo aufgrund von Unsicherheiten oder Unbekanntem ein Plan nicht erstellt oder mit zu vielen Risiken behaftet ist.

 

Und wie im noch folgenden Kapitel «Kultur» erläutert, sind Trei-ber für agile Vorgehensweisen Softfaktoren, die mit bisherigen Me-thoden weniger integriert Anwendung fanden. Es bedeutet ein gewis-ses Mass an Mut in der Führungsstufe, Erzieltes sowie den Change immer wieder kritisch zu hinterfragen, einen Schritt zurückzugehen, um mit den gesammelten Erkenntnissen erst weiterzukommen. Und auch Mut alleine genügt nicht, wenn das dafür notwendige Mindset und die Kultur im Unternehmen durch die Führung nicht geschaffen werden. Ganz im Sinne der kontinuierlichen Verbesserung sowie der Normanforderung ist es dann auch wichtig, diese neueren Strategie-ziele im Managementreview-Bericht aufzunehmen und in höheren Zyklen als nur einmal (oder kurz vor Zertifizierungsaudits) auf ihre Wirksamkeit und Erfüllungsgrad zu reviewen bzw. Korrekturmass-nahmen einzuleiten.

Empirische Prozesse und Vereinbarkeit mit der Norm
Bewertet man diese Vorgehensweisen mit der Vereinbarkeit von Quali-tätsmanagement, ist zu erkennen, dass das Vorgehen prinzipiell dem klassischen Verständnis entspricht und zahlreichen Normanforderun-gen nachkommt. Generell zutreffend sind der Anspruch auf systemati-sches Vorgehen, die in folgenden Kapiteln erfüllt werden: Kapitel 6.1 «Massnahmen zur Behandlung von Risiken und Chancen»; in Kapitel 8.2.2, Ermittlung von Anforderungen in Bezug auf Produkte/Dienstleis-tungen und auch das sechste Prinzip «Sachbezogener Ansatz zur Ent-scheidungsfindung».

 

Herausfordernd dürfte die Vereinbarkeit von iterativem Vorge-hen und der Anforderung aus Kapitel 8.2.2 sein. Darin wird grund-sätzlich gefordert, dass die Anforderungen an ein/e Produkt/Dienst-leistung vor der Entstehung bekannt sein sollen. Agile Vorgehenswei-sen richten sich nach dem zu erfüllenden Zweck und nicht primär auf das vom Kunden geäusserte Bedürfnis und lassen somit eine umfas-sendere Lösung offen. Die Kundenbedürfnisse werden durchaus er-füllt, aber möglicherweise auch übertroffen (siehe dazu Kapitel «Stär-kere Unterscheidung von Kundenbedürfnissen-/-Anforderungen»). Und bei dieser Form der Entwicklung dürfte dann auch der Nachweis für diese Normanforderung deutlich einfacher ausfallen, wie Kun-denorientierung und Versprechungen berücksichtigt werden. Durch dieses Vorgehen wird auch das Kapitel 8.2.3, Bewertung der Anforde-rungen in Bezug auf die Produkte und Dienstleistungen, den endgül-tigen Nachweis für die Vereinbarkeit von Agilität und ISO 9001:2015 zum Ausdruck bringen. In diesem Kapitel wird gefordert, dass die Or-ganisation nicht nur sicherstellen muss, dass sie die Fähigkeit besitzt, Anforderungen an die angebotenen Produkte und Dienstleistungen zu erfüllen. Darüber hinaus müssen Produkte und Dienstleistungen, bevor sie angeboten werden, diverse Punkte erfüllen, wovon einer von Kunden genannte festgelegte Anforderungen sowie von Kunden nicht genannte Anforderungen, die aber soweit bekannt für den Gebrauch notwendig und vorteilhaft sind.

 

 

 

 

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