Wearable, App & Co.: Chancen und Risiken für die Therapie

Die kommerzielle Digitalisierung eröffnet Kontroversen im Gesundheitswesen. Experten sind sich noch uneinig, was Diagnosegenauigkeit, Benutzerfreundlichkeit, schliesslich auch den Datenschutz anbetrifft. Technische Schwachstellen und gesetzliche Rahmenbedingungen wie die EU-Medizinprodukte-Verordnung fordern eHealth-Verantwortliche, die beispielsweise App-Dienstleistungen in Therapien aufnehmen möchten.

Wearable, App & Co.: Chancen und Risiken für die Therapie

 

Es heisst an Fachsymposien, dass mHealth (Mobile Health), die ortsunabhängige Erfas-sung, Auswertung, Diagnose oder Alarmie-rung über portable Geräte, auf dem Vor-marsch sei. eHealth (Electronic Health) liegt im Trend. Experten gehen davon aus, dass 2017 gegen 91 000 iOS-Apps zum Thema Me-dizin und Gesundheit feilgeboten wurden. Die Tendenz ist steigend. Die Angebotesitua-tion schwierig zu überblicken.

 

Immer spezialisiertere Apps und Ange-bote kursieren. Für Therapien nennenswert sind Angebote in der Selbstmedikation, in der Behandlung gegen chronische Krankheiten, wobei Therapietreue gefördert werden soll. Im Vergleich zu bisherigen Med-Angeboten bietet mHealth grundsätzliche Vorteile:

 

Vorteile sind «vor allem durch die enorme Durchdringung des Smartphones, durch die Häufigkeit der Nutzung sowie geringe Anschaf-fungskosten» gegeben, unterstreicht eine Stu-die die Relevanz von eHealth (*Shrum, 2014).

 

Nebst präventiven Massnahmen sehen Klinikverantwortliche durch Mobile-Health- Programme mehr Möglichkeiten, ihre Leis- tungs- und Versorgungsqualität zu steigern. Der schrankenlose Datenaustausch mit Ärz-ten und die damit nachvollziehbare Therapie werden durch die Fachwelt durchgehend positiv­ bewertet. Doch nicht alles, was Pati-entendaten einliest, ist auch ein Segen. ­Experten warnen immer wieder davor, dass Anwender die Geräte verhältnismässig unre-flektiert einsetzen, sie sich der möglichen Ge-fahren, die aus deren Einsatz entstehen kön-nen – besonders auch in hochsensiblen Berei-chen –, nicht bewusst sind.

 

«Fünf Prozent der Spitaleintritte sind auf unerwünschte Arzneimittelereignisse zurückzuführen.»

Informationelle «Selbstbestimmung»
Im Bereich eHealth, wie in anderen Sektoren auch, besteht die Gefahr, einzelne Akteure oder ganze Gruppierungen zu überfordern, so etwa durch neue Dienste und Technologi-en (durch die Geschwindigkeit der Entwick-lung, Komplexität etc.). Die digitale Transfor-mation betrifft deshalb nicht nur App-­ Entwickler, sondern auch Teile der pflegebe-dürftigen und alternden Gesellschaft.

 

Gerade wegen der massiven Flut an Daten-erfassungsapplikationen sollte das Schweizer Ge-sundheitswesen Richtlinien aufweisen können, um Datenerfasser, Patienten und Datenverarbei-tende über Konzepte wie die «informationelle Selbstbestimmung» respektive die «digitale Sou-veränität» bestmöglich aufzuklären.

 

Zurzeit arbeiten diverse Stakeholder unter der Leitung der Bundesämter für ­Gesundheit BAG und für Justiz BJ an einer effizienten­ und sicheren Anwendung von Pa-tientendaten. Bis jetzt gilt die Selbstbestim-mung: Bürgerinnen und Bürger beziehungs-weise Patienten können schriftlich eine Ein-willigung zur personenbezogenen Datener-fassung einreichen, die Zweitnutzung ihrer Daten einfordern beziehungsweise verhin-dern. Bei über Stufen hinweg entwickelten Apps hingegen ist es schwierig, sein «Recht auf Kopie» durchzusetzen.

 

Darüber hinaus sind die Kosten für eine CE-Zertifizierung einer App, also die Bewertung der technischen Dokumentation einer Med-App, auch nicht ohne. Zurzeit sei die Firmengrösse eine Richtgrösse, wird der TÜV SÜD bezüglich des Qualitätsmanagements von eHealth-Apps zitiert. Allein die Zertifizierung einer bescheidenen App-Entwicklerfirma könne sich auf 10000 Euro belaufen (Quelle: aerzteblatt.de).

Einfallslücken bei Medizinalgeräten
Eine Hemmung bei noch so gut geprüften Sys-temen: Hacker nutzen Ausnahmesituationen, schöpfen präferiert über Phishing-E-Mails oder ausgeliehene (Medizinal)Geräte sensible Daten ab. Im Extremfall manipulieren sie so-gar Medizinalgeräte (z. B. über die Kalibra-tions-Software). Über diese Seite referierten zwei Insider vom Chaos Computer Club Zü-rich an der Security in Health Conference 2017 in Rotkreuz über kursierende Einfallslücken und Spyware bei Medizinalgeräten.

 

Sie berichteten über gezielte Falschpro-grammierungen von lebenswichtigen Gerä-ten (z. B. einem Wireless Defibrillator), die just über ein iPhone ausgeführt werden konnten. Aktuell seien es noch Einzelfälle, doch Spritzenpumpen, Narkosegeräte, nicht zuletzt private Tablets mit sensiblen Daten seien rund um die Uhr eingeschaltet.

 

Um an medizinische (Meta)Daten zu gelangen, fokussieren Kriminelle präferiert auf mobile Endgeräte. «Es geht hier nicht un-bedingt um Identitätsdiebstahl, medizini-sche Daten bringen auf dem Markt viel Geld ein – neue Technologien wie anonymisierte Krypto-Überweisungen tun ihr Übriges hier-zu», kommentiert Peter Fischer, Veranstalter der Security in Health Conference und Pro-fessor für Informatik an der Hochschule Lu-zern, kritische Punkte, die inzwischen das Schweizer Gesundheitswesen beschäftigen (siehe Box «Cyberattacken auf Spitäler»).

 

Claudio Luck vom Chaos Computer Club: «Online-Daten, die auch bei Messgeräten oder Devices entstehen, sind inzwischen besser für Analysten zu vermarkten als handgeschriebene Briefe.» Weltweit organisierte Gruppen betreiben so meist ungeahndet Schwarzhandel mit Med-Daten und internen Meldungen.

 

«Die Verhütungs-App Natural Cycles gehört zur Klasse II b.»

Welche Apps Medizinprodukte sind
Mit Inkrafttreten der EU-MedizinprodukteVerordnung weitet sich die Definition für Medizinprodukte aus. Es ist ab 2020 gut möglich, dass einige Apps und dazugehörige Software der gleichen Risikoklasse wie künstliche Herzklappen zugeordnet werden.

 

«Viele Apps, die heute noch zur niedrigsten Risikoklasse I zählen, werden ab 2020 höher eingeordnet», erklärt Dr. Andreas Purde vom TÜV SÜD und verweist auf die neue Regel 11 in der Medical Device Regulation MDR. Sie besagt, dass Software, die hilft, eine Entscheidung bei der Diagnose oder Therapie zu treffen, mindestens der Klasse II a angehört.»

 

Gleichwohl stehen viele App-Angebote noch weit hinter dieser Regulation. – Ob durch Apps akuten Fällen wirklich besser oder gezielter geholfen werden kann und in naher Zukunft gar hieb- und stichfeste Health-Analysen – beispielsweise übers Erbgut – eingeführt werden können, muss die «Praxis» erst noch zeigen.

 

Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) unterstreicht: «Abhängig von der möglichen gesundheitlichen Konsequenz fehlerhafter Informationen sind Anwendungen künftig sogar bis zur Risikoklasse III einzustufen.» Als Beispiel nennt das BfArM Schädigungen durch falsche Dosierungen bei einer Krebstherapie. In diese Risikoklasse werden ansonsten künstliche Herzklappen oder Hüftendoprothesen eingeordnet.

 

Selbst ein Schmerztagebuch als App, welches den sogenannten Schmerzscore errechne, woran sich der Arzt bei seiner Therapie orientiere, gehöre somit mindestens in die Klasse II a, sagt Purde vom TÜV SÜD.

Zweck noch weitgehend offen
Purde hat schon einige Medizin-Apps geprüft. Am häufigsten scheitert nach seiner Einschätzung die Zertifizierung an drei Punkten:

 

  • Bei der App handelt es sich nicht um ein Medi- zinprodukt, etwa weil die Zweckbestimmung keine medizinische ist.
  • Normen (unter anderem IEC 62304, IEC 62366–1, ISO 14971) wurden nicht eingehalten und Risiken nicht ausreichend gemindert – dazu zählen auch Risiken im Zusammenhang mit Cybersecurity.
  • Die klinischen Daten sind unzureichend. Sie können meist anhand einer Literaturrecherche zusammengestellt werden. «Sollte dies nicht möglich sein, ist eine klinische Studie notwendig», sagt Purde. Quelle: www.aerzteblatt.de

 

Hinweis: Auch nicht durch die CE-Kennzeichnung abgedeckt ist die Nutzenevaluation

 

Ärzte müssen sich vor dem Einsatz einer App am Patienten davon überzeugen, dass diese für den angedachten Zweck geeignet und erkennbar sicher ist, um im Schadensfalle einen Verschuldensvorwurf zu entkräften. Zurzeit sind nur wenige Apps als Medizinprodukt gekennzeichnet.

Klassifizierung von App-Risiken
«Von knapp 9000 Gesundheits-Apps mit deutscher App-Beschreibung verweisen weniger­ als 40 auf eine CE-Kennzeichnung», erläutert PD Dr. med. Urs-Vito Albrecht von der Medizinischen Hochschule Hannover die Ergebnisse einer Analyse. Etwa die Hälfte ­davon könne man beim Deutschen Institut für Medizinische Dokumentation und Infor-mation DIMDI recherchieren.

 

«In Zukunft können bei OPs Mikrodatenpunkte erhoben werden.»

 

Noch zur Klasse I zählen nach MDD-­ Regulation etwa die Apps Tinnitracks für die neuroakustische­ Tinnitus-Therapie, Cankado in der Krebstherapie und Kaia zur Rücken-schmerztherapie. Die Verhütungs-App Natural Cycles gehört zur Klasse II b, CardioSecure Pro verspricht ein EKG in Klinikqualität (Klasse II a).

 

Möchte man neue Applikationen klassi-fizieren, ist schliesslich auch zu berücksichti-gen, dass Studien zur Patientensicherheit bele-gen, dass mindestens fünf Prozent der Spi-taleintritte auf Fehldiagnosen oder un­ erwünschte «Arzneimittelereignisse» zurück-zuführen sind. Es gibt jedoch Bestrebungen, dass sich Patienten über seriöse Apps selber kurieren.

eHealth in der Schweiz
Experten sind sich einig: Apps können Ärzte und Therapeuten in der Prävention, Diagnose und Therapie unterstützen.

 

Sie sollten jedoch qualitativen Regelun-gen respektive internationalen Zertifizierun-gen unterliegen. Patienten können sich aktuell nur auf Empfehlungen von Spezialisten verlas-sen, etwa ihren Impfstatus elektronisch zu ­erfassen und persönliche Daten einzuscannen. Leider ist das Thema «mHealth» (siehe Info-box), das mobile Management der Krankenda-ten, nach wie vor zu stark anbieter- und konsumgetrieben.

 

Adrian Schmid, Leiter eHealth Suisse, betonte: «Gut drei Millionen Gesundheits-Apps werden in der Schweiz angewendet. Diese Apps entsprechen jedoch nicht der Definition von Medizinprodukten.» Seinen Schätzungen nach erfüllen höchstens drei Prozent jener Programme die Bedingungen des Eidgenössischen Heilmittelgesetzes, die per se auch moderne Medizinprodukte defi-nieren.

 

Ein koordiniertes Vorgehen fehle in der Schweiz bisher. Schmid sowie einige Fachleu-te befürworten die mobile Unterstützung, soweit­ konkrete Messwerte erhoben und ­sofern solche Big-Data-Werte sicher hinter-legt sind. Schmid: «Die Quelle der Information sollte jedenfalls werbefrei und politisch unab-hängig eingesetzt werden.»

 

Bereits heute arbeiten Versicherungen mit dif-fusen Ausgestaltungen von Apps. Sie werben für Gesundheits-Checks, Eigenpartizipation, mit Fördermassnahmen und Incentive-Aktio-nen für deren Benutzung. Nicht neu im ­Gesundheitswesen ist hingegen die elektroni-sche Datenwirtschaft. Dabei kreuzen sich Daten­ aus verschiedenen Quellen (Elektroni-sches Patientendossier, Leistungserbringer, Therapietypen­ etc.) und fliessen in Bereiche des Einkaufs, der Mobilität, der Gebäude­ technik, der Geolokalisation etc.

 

Es heisst, in naher Zukunft könne der Gesundheitszustand eines Patienten auch mit Hilfe von Mikrodatenpunkten auf OP-Materia-lien, gar auf Patientenverbänden und einzu-nehmenden Präparaten beschrieben werden. Neben einer Entlastung der Ärzte von adminis-trativen Arbeiten durch eine automatisierte Dokumentation bietet dieser Ansatz viele wei-tere Möglichkeiten und ebnet möglicherweise den Weg zu intelligenten Technologien.

Common Sense gegeben?
Allerdings nur, wenn die Bevölkerung in der Lage und willens ist, die Errungenschaften von «eHealth», «Personalized Medicine», ­«TeleMedCare» oder «Ambient Assisted Li-ving» zu nutzen und darin Vertrauen zu fas- sen, werden sich Nutzen und Mehrwert für die Akteure und das Gesundheitswesen als Ganzes erzielen lassen. Dies betrifft in hohem Masse auch die gesellschaftliche Akzeptanz der dafür nötigen Grundlagen, Mittel, Instru-mente oder Verfahren.

 

In der Schweiz engagiert sich beispiels-weise die IG eMediplan, eine Organisation, für die Einführung des eMediplans. Der ­eMediplan helfe nicht nur, Medikationsfehler zu vermeiden, «er alarmiert über Präparate in Echtzeit». In Deutschland gibt es das nicht unbedeutende Vergleichsportal HealthOn. Es hilft, den weltweiten, unübersichtlichen Markt der Gesundheits- und Medizin-Apps zu identifizieren. Hiervon sollen Anbieter wie Patienten profitieren können, die wirklich «relevanten Angebote» finden.

 

Entwickler von Medizin-Apps müssen sich jedenfalls auf deutlich höhere Anforde-rungen einstellen. Bisher galt eine App oder eine Software als Medizinprodukt, wenn sie einen diagnostischen oder therapeutischen Ansatz verfolgte. Wie oben ausgeführt, gehört selbst ein Schmerztagebuch auf einer App laut TÜV SÜD demnächst in die Klasse II a der EU-Medizinprodukte-Verordnung.

 

Dem sicheren und verantwortungsvol-len Umgang mit sensiblen Daten sowie dem Schutz von Patienten kommt im Gesundheits-wesen höchste Bedeutung zu. Insgesamt gibt es jedoch zu wenig Möglichkeiten im Rahmen der Aus- und Weiterbildung von entsprechen-den Fachkräften Medienkompetenz einzufor-dern – schliesslich laufen die wichtigsten Fä-den in Sachen eHealth in der nötigen Grund-haltung (engl.: awareness) aller Beteiligten in-einander.

 

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