Gewohntes zu den Akten legen

Christina Kehl ist Vorstandsmitglied und Geschäftsführerin von Swiss Finance Start­ ups (SFS), dem ersten Verband für Fintech-Startups. Kehl hat den Verband vor gut zwei Jahren mit ins Leben gerufen, inzwischen ist sie auch Mitglied des Beirats für digitale Transformation des Bundesrats und hält Reden an renommierten Veran­ staltungen. Christina Kehl im Interview.

Gewohntes zu den Akten legen

 

Frau Kehl, Sie haben als Präsidentin und Geschäftsführerin des SFS die Schweizer Fintech-Szene mitgestaltet. Was gibt es, Ihrer Meinung nach, neben Steuervorteilen an Kriterien, die Fintech-Firmen hierzu­ lande nutzen?
Die Faktoren sind vielfältig. Sicherlich spielt das geschäftliche Umfeld eine grosse Rolle. Wo finde ich Businesspartner und Kunden? Wo erhalte ich Marktzugang? Dazu zählen auch die Mitarbeiter. Ich muss schliesslich von meinem Standort aus wachsen können. Der Arbeitsmarkt ist jedoch international, das bedeutet: Ich muss die Möglichkeit ha-ben, internationale Talente anzuheuern, und der Standort muss für diese attraktiv sein.

 

Bürokratie ist ein weiterer wichtiger Faktor, zu hohe regulatorische Hürden kön-nen viel Geld und Zeit verschlingen. Beides ist in Startups rar gesät. Ich denke, die Lebens- haltungskosten sowie der Zugang zu Kapital und Investoren sind auch mitentscheidend bei der Standortwahl. Schliesslich zählen auch sogenannte weiche Faktoren wie Le-bensgefühl und Kultur. Nicht umsonst ziehen Städte mit gewissem internationalem Flair und ‹Startup-Geist› immer weitere Gründer-unternehmen an.

 

Sie rühmten auch schon Standortinitiativen wie jene präsenter werdende Blockchain-Kampagne aus Zug, dem selbst proklamier-ten Crypto Valley. Beurteilen Sie solche Fintech-Regionen generell nur positiv?
Eine Art von Cluster-Bildung ist absolut kein neues Phänomen; wo erfolgreiche Unterneh-men sitzen, siedeln sich Zulieferer, Abneh-mer und Partner an. Dies gilt für traditionelle Branchen wie etwa die Baubranche wie auch für Krypto-Plattformen. Wenn Standortinitia­ tiven Engagement zeigen und damit Signale setzen, dass sie zu diesen Branchen stehen, ist das grossartig. Zug hat für sich erkannt, dass die Finanzbranche im Wandel ist und Fin-tech/Crypto neue Chancen bieten.

 

Wenn Sie Reden vor Verbänden halten, weisen Sie oft darauf hin, dass die Digitali-sierung nicht ernst genug genommen wird. Sehen Sie denn auch Lücken, die Schweizer Unternehmen noch füllen sollten?
Es geht mir dabei nicht allein um die Unter-nehmen. Die Digitalisierung ist eine ge-samtgesellschaftliche und vor allem kultu-relle Aufgabe. Will man aber dennoch zu-nächst die Unternehmen in den Blick neh-men, so haben jüngste Studien gezeigt, dass es weniger die technischen Herausforde-rungen sind, sondern, dass vor allem die vor-herrschende Unternehmenskultur einem erfolgreichen Wandel im Weg steht. Wir müssen bereit sein, alte Muster abzulegen und die ausgetretenen Pfade zu verlassen.

 

«Gewohntes ad acta legen und Neues erlernen»

 

Dabei ist es wichtig, Mitarbeiter nicht einfach nur auszutauschen oder wegzuratio-nalisieren, sondern diese in den Wandel ein-zubeziehen. Hier ist wiederum die gesamte Gesellschaft gefragt.

 

Wie motivieren Gründerunternehmen ihre Leute?
Lebenslanges Lernen wird mehr und mehr wichtig, und wir müssen uns von dem Ge-danken verabschieden, dass wir nach dem Abschluss einer Ausbildung oder eines Stu-diums quasi rundum fertig sind. Auf jeder Karrierestufe und in jedem Alter werden wir immer wieder neu anfangen, Gewohntes ad acta legen und Neues erlernen. Wir müssen die Ängste der Menschen auffangen und le-benslanges Lernen positiv besetzen, indem wir Lust und Neugier wecken und Mut ma-chen.

 

Man liest, dass sich in der Region Zug nicht nur Hochschulen und gegen 20 Startups im Blockchain-Kontext angesiedelt haben. Zug duldet immer neue Krypto-Fonds. Sehen Sie vielleicht auch eine Art Einseitigkeit (Stich-wort: Reputationsrisiko), wenn einmal Krypto-Angebote weniger gut ankommen?
Die Wirtschaft unterliegt einem stetigen Wan-del und man muss die Entwicklung konti­ nuierlich beobachten. Ich komme aus

 

Deutschland, dort ist die Automobilindustrie seit Jahrzehnten eine tra-gende Wirtschaftssäule. Was passiert aber, sollte Deutschland etwa den Sprung weg vom ölunabhängigen Fahrzeug nicht schaffen, während beispielsweise China autonom fahrende Elektrofahrzeuge produziert?

 

«Unternehmertum ist eine urschweizerische Tugend.»

 

– Oder nehmen wir das finnische Nokia, das lange Zeit den Mobilfunk-markt dominierte und dann den Schritt zum Smartphone verschlief.

 

Die heutige Wirtschaft ist global vernetzt und im ständigen Wandel, jeder Standort muss seine für ihn wichtige und richtige Bran-che finden, diese zukunftsfähig halten und sich immer wieder auf Veränderungen einlassen. Dies ist eine grosse, aber auch spannende Herausforderung.

 

Was müsste die Schweiz, abgesehen von obigen Extremfällen, besser machen, um für Startups attraktiver zu werden?
Unternehmertum ist eine urschweizerische Tugend. So sind hierzu-lande viele erfolgreiche Unternehmen entstanden, die inzwischen teilweise auf eine lange Historie zurückblicken können. In den letzten Jahrzehnten hat man sich ein wenig auf dem Erfolg der alten Gründer ausgeruht und es sich in den Strukturen der bestehenden Grossunter-nehmen gemütlich gemacht. Heute stecken wir jedoch mitten in einer neuen Gründerzeit, in der die Karten noch einmal komplett neu ge-mischt werden.

 

Hätten Sie denn eine Art Patentrezept für neue Initiativen?
Wir müssen den alten Schweizer Unternehmergeist wieder neu ent-decken. Dies ist auch eine kulturelle Frage. Wir sollten weniger auf den lückenlosen Lebenslauf geben und dafür Eigeninitiative mehr wertschätzen. Ein Startup darf nicht erst dann Beachtung erlangen, wenn es entweder zum Corporate angewachsen ist oder von einem solchen aufgekauft wurde. Gründen heisst, ganz klein anfangen und eben manchmal auch scheitern. Wir sind führend im globalen Innovationsindex,­ also wenn es um die Anzahl der Patente geht. Es wird Zeit, dass die innovativen Köpfe der Schweiz sich auch trauen, ihre Ideen wirtschaftlich auf den Boden zu bringen.

 

Digitale Plattformen und Technologien verändern die Wirtschafts-strukturen. Wo könnten sich weitere Durchbrüche ergeben?
In den Bereichen der künstlichen Intelligenz und Machine Learning stehen wir gerade erst am Anfang. Hier wird es in den nächsten Jahren sehr spannend.

 

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