Taktgeber im digitalen Produktionszeitalter
Von mobilen und selbstlernenden Robotern über modernste Reinraumtechnologien, Verfahren zur Erklärbarkeit von maschinellem Lernen bis hin zu Softwaretools für die Produktion: Die Robotik erfasst immer mehr Sektoren der Industrie. An vorderster Front aktiv – besonders in Deutschland – ist das Fraunhofer-Institut für Produktionstechnik und Automatisierung (IPA). Dieses führt am 18. Juni 2020 eine «Virtual IPA Preview» durch und zeigt dabei eine Fülle von Anwendungen und Services für die automatisierte Produktion.
Wie die Schweiz verfügt auch Deutschland über eine «lebendige» Robotikszene. Intelligente Automation hält in vielen Bereichen Einzug. Als eine Art «Leistungsschau» fungiert jeweils die Automatica, die alle zwei Jahre stattfindende Leitmesse für intelligente Automation und Robotik. Corona-bedingt wurde die Messe verschoben; sie soll nun vom 8. bis 11. Dezember 2020 in München stattfinden. Auch das Fraunhofer IPA aus Stuttgart wird vor Ort sein und zeigen, was in Sachen Robotik und Automation bereits möglich ist und wohin die Reise auf dem Shopfloor der Zukunft gehen wird.
Kooperative und vernetzte Navigationslösungen
Auf einer erhöhten Ausstellungsfläche fahren kompakte mobile »rob@work«-Roboter. Sie navigieren autonom, sind untereinander vernetzt und zeigen ein miniaturisiertes Logistikszenario. Dank eines kontinuierlichen SLAM-Algorithmus (SLAM = Simultaneous Localization and Mapping, d.h. simultane Positionsbestimmung und Kartenerstellung) können sich die Roboter auch in veränderlichen Umgebungen verlässlich lokalisieren, ohne dass zusätzliche Infrastruktur vorhanden sein muss. Zudem tauschen sie Daten eigener oder stationär in der Einsatzumgebung verbauter Sensoren aus. So liegt jedem Roboter stets eine aktuelle Karte vor, anhand derer er seine Route anpassen und sich lokalisieren kann. Dies vermeidet unnötige Wege, Engpässe und Stillstände. «Mit dieser kooperativen Navigationslösung zeigen wir, wie fahrerlose Transportsysteme zum Beispiel eine Matrixproduktion ermöglichen», erklärt Kai Pfeiffer, Gruppenleiter Servicerobotik für Industrie und Gewerbe am Fraunhofer IPA. «Wir können das Exponat auch um virtuelle Roboter erweitern und mit Augmented Reality Fahrwege und andere Informationen visualisieren», ergänzt er. Dies vereinfacht und beschleunigt die Inbetriebnahme, Instandhaltung oder Erweiterungen der Flotte. Die geforderte Agilität moderner Logistikprozesse konnte die Software bereits mehrfach erfolgreich in industriellen Anwendungen zeigen.
Automatisiert montieren und autonomer greifen
Viele Unternehmen beschäftigen sich mit der Frage, inwieweit sie ihre Montageaufgaben automatisieren können. Bereits seit vielen Jahren bietet das Fraunhofer IPA für diese Frage die Automatisierungspotenzialanalyse (APA). Bisher war die APA an das Wissen eines Automatisierungsexperten geknüpft. Eine neue App macht dieses Wissen nun einfacher zugänglich. Sie leitet den Anwender an, die eigenen Montageprozesse zu analysieren, wertet seine Antworten aus und informiert über Automatisierungspotenziale. «Mit unserer App kann jeder zum Experten in der Bewertung von Montageprozessen werden», erklärt Alexander Neb, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Fraunhofer IPA arbeitet und die App mitentwickelt hat. Sie kann über einen einfachen Lizenzvertrag für den Testeinsatz bezogen werden.
Eine weitere Software für die Montageautomatisierung ist NeuroCAD. Sie analysiert mithilfe maschineller Lernverfahren Bauteileigenschaften und ermittelt daraus eine Einschätzung, inwieweit sich ein Bauteil für eine Montageautomatisierung eignet. Anwender können auf www.neurocad.de ihre STEP-Dateien kostenlos hochladen und erfahren innerhalb weniger Sekunden, wie einfach oder schwer ein Bauteil zu vereinzeln ist. Ausserdem bewertet das Tool die Greifflächen und die Ausrichtbarkeit des Bauteils. Zusätzlich nennt das neuronale Netz eine Wahrscheinlichkeit dafür, dass es mit seinem Ergebnis richtig liegt.
Schliesslich zeigt der pitasc-Systembaukasten zur Programmierung kraftgeregelter Montageprozesse, wie manuell ausgeführte Prozesse wirtschaftlich sinnvoll automatisierbar sind. «Bisher war es erforderlich, ein Robotersystem für jede Anwendung weitgehend neu zu programmieren. Mit unserer Software sind einmal modellierte Aufgaben schnell auf neue Produktvarianten, Produkte und sogar auf Roboter anderer Hersteller übertragbar», sagt Frank Nägele, Leiter der Gruppe Roboterprogrammierung und -regelung am Fraunhofer IPA. Die Software ist ähnlich einem Baukastensystem strukturiert: Sie enthält viele fertig einsetzbare und wiederverwendbare Programmbausteine, die bei der Einrichtung eines Robotersystems individuell zusammengestellt werden können. pitasc ist bereit für den Einsatz in Pilotanwendungen, die die Wissenschaftler gerne gemeinsam mit Unternehmen umsetzen möchten.
Nicht nur die Montage, sondern auch die Anwendung Griff-in-die-Kiste ist mitunter noch eine Herausforderung für die Automatisierung. Mit dem Exponat »AI Picking« zeigt das Fraunhofer IPA, wie maschinelle Lernverfahren und Simulationen die Anwendung hinsichtlich Autonomie und Leistungsfähigkeit signifikant verbessern. Die Wissenschaftler führen dies am Beispiel eines Roboters vor, der Objekte aus undefinierter Lage aus einer Kiste greift. Eine auf künstlicher Intelligenz (KI) basierende Objektlageschätzung liefert hierfür robuste und akkurate Objektlagen in wenigen Millisekunden. «Neue Objekte lassen sich auf Basis eines CAD-Modells schnell und einfach einlernen«, erklärt Projektleiter Felix Spenrath. »Die Software kann zudem Verhakungen detektieren und lösen und auch mit Verpackungsmaterial robust umgehen.» Der Roboter wurde bereits in der Simulation umfassend trainiert und dieses Wissen dann auf die reale Anwendung übertragen. Greifposen werden auf Basis dieses Wissens automatisch generiert und bewertet.
Kontaminationsfrei produzieren mit Schutzhülle und Reinraumzelt
Nicht nur eine autonomere, sondern auch eine ultrareine Produktion ist immer gefragter. «Reine Produktionsumfelder ermöglichen die Hightech der Zukunft», erklärt Udo Gommel, Leiter der Abteilung Reinst- und Mikroproduktion am Fraunhofer IPA. «Die Schlüsseltechnologien von morgen kommen nur mit Reinheitstechnik voran. Sie ist entscheidend: von der Batterieproduktion bis zur Biotechnologie.» Anhand der drei folgenden Produkte will das Fraunhofer IPA die technologischen Fortschritte demonstrieren:
- Schutzumhüllung 2ndSCIN®: Frisch patentiert macht 2ndSCIN® dynamische Automatisierungskomponenten wie zum Beispiel einen Roboter für die ultrareine Produktion einsatzbereit. Die Hülle besteht aus einem durchlässigen, beweglichen und mehrschichtigen Textil, das in seiner Funktionsweise der menschlichen Haut nachempfunden ist. Je nach Anwendung können zwei oder mehr Schichten übereinanderliegen. Die Schichten werden jeweils mit Abstandshaltern separiert. In jedem Zwischenraum kann zum Beispiel Luft eingesaugt oder abgeführt werden. So können Partikel entfernt werden, die aus der Umgebung oder von der Automatisierungskomponente stammen. Die Zuführung von Gasen in die Zwischenräume des Systems ermöglicht dessen Sterilisation. Darüber hinaus lässt sich die Hülle in etwa einer Stunde wechseln und kann nach einer Dekontaminierung wiederverwendet werden. Die Textilschichten sind zudem mit Sensoren ausgestattet, die kontinuierlich Parameter wie Partikelmengen, Druck oder Feuchtigkeit messen. Künftig sollen diese Sensordaten mithilfe von KIAlgorithmen ausgewertet werden und beispielsweise eine vorausschauende Wartung ermöglichen.
- Mobiler Reinraum CAPE®: Wissenschaftler vom Fraunhofer IPA haben zudem ein mobiles, zeltähnliches Reinraumsystem entwickelt, das sich in weniger als einer Stunde sowohl in Innenräumen als auch in wettergeschützten Aussenbereichen aufbauen lässt. Mit diesem «Reinraum on Demand» bekommen Hersteller eine mobile, kontaminationsfreie Fertigungsumgebung, die eine Luftreinheit der ISO-Klassen 1 bis 9 ermöglicht. Die Lösung eignet sich für Hersteller, die kontaminationsfrei fertigen müssen, aber keine permanent verfügbare sterile und reine Umgebung benötigen. Beispiele sind etwa Einsätze in der Chipfertigung, der Medizintechnik, der Lebensmittelindustrie oder der Satellitenmontage. Auch die Automobilbranche profitiert von dem Reinraumzelt, beispielsweise in der Batteriezellen- oder Brennstoffzellenfertigung.
- Fraunhofer Tested Device®: Bereits seit vielen Jahren bietet das Fraunhofer IPA auch Verfahren zur Partikelemissionsmessung an und zeichnet geprüfte Objekte mit dem Zertifikat «Tested Device» aus. Im genannten CAPE® wird dieses Verfahren mittels eines optischen Partikelzählers und eines Prüfobjekts demonstriert. Unternehmen erhalten mit dem produkt- und kundenspezifischen Prüfbericht eine Bestätigung der Reinheits- und Reinraumtauglichkeit ihrer Anlagen, Geräte oder Verbrauchsmaterialien.
Maschinelles Lernen erklären und Daten vermitteln In der Robotik wie auch in zahlreichen anderen Einsatzfeldern in Produktion und Dienstleistung kommen zunehmend maschinelle Lernverfahren und künstliche neuronale Netze zum Einsatz. Je nach Anwendung wird es immer wichtiger, zu wissen, wie diese genau arbeiten und warum sie zu einem bestimmten Ergebnis kommen. Sie müssen erklärbar werden. Das ist aufgrund ihrer Komplexität bisher oft noch nicht möglich. «Je leistungsfähiger ein neuronales Netz, desto schwerer ist es zu verstehen », erklärt Prof. Marco Huber, der am Fraunhofer IPA das Zentrum für Cyber Cognitive Intelligence (CCI) und die Abteilung Bild- und Signalverarbeitung leitet. Unter dem Motto «Explainable AI» (xAI) präsentiert das Fraunhofer IPA Verfahren, die Entscheidungen von neuronalen Netzen visualisieren und für den Anwender transparent und nachvollziehbar machen. «Diese Nachvollziehbarkeit stärkt die Akzeptanz von KI, schafft Vertrauen, verbessert die korrekte Funktionsweise und gibt Rechtssicherheit», erklärt Huber.
In jeder Produktion fallen Daten an, doch ist es aufgrund unterschiedlicher Formate und Schnittstellen oft nicht möglich, diese zu nutzen und auszuwerten. Die Software «StationConnector» setzt genau hier an, indem sie eine einheitliche Schnittstelle über alle Anlagen hinweg bietet. So kann sie Daten einfach und anwendungsspezifisch zwischen Industrieprotokollen, Steuerungen und beliebigen IT-Systemen vermitteln. «Mit unserer Software können Anwender schnell datenbasierte Geschäftsmodelle generieren und umsetzen », so Marcus Defranceski, Gruppenleiter Reinheitsspezifische Automatisierungssysteme. Die Software lässt sich einfach und flexibel einsetzen und eignet sich für verschiedenste Anwendungen, beispielsweise KIVerfahren oder Monitoring.
Produktionen effizienter machen und Arbeitende entlasten
Wie Verluste in Produktionen automatisch erkannt und ihre Ursachen ermittelt werden können, zeigt ein Demonstrator zur autonomen Produktionsoptimierung. Er bildet ein automatisiertes Modell einer Fertigungslinie ab. Diese wird sowohl über die Steuerung als auch über externe Sensorik wie beispielsweise Lichtschranken oder Kameras beobachtet. Alle Beobachtungsquellen werden genutzt, um ein Verhaltensmodell der Linie zu erstellen. Dies ermöglicht, die Linie kontinuierlich online zu analysieren und so das Normalverhalten zu erfassen sowie darauf basierend Produktionsverluste zu identifizieren. «Damit möchten wir die Effektivität der gesamten Anlage erhöhen und zentrale Prozessparameter transparent machen», erklärt Julian Maier, Wissenschaftler am Fraunhofer IPA und Mitentwickler des Demonstrators.
Die flexible Arbeitskraft des Menschen in Produktionen ist trotz vieler Automatisierungsmöglichkeiten an vielen Stellen immer noch unersetzbar und es gilt diese bestmöglich zu bewahren. Exoskelette, also Robotersysteme, die direkt am Körper getragen werden, bieten Kraftunterstützung bei anstrengenden Tätigkeiten und entlasten den Menschen. Am Fraunhofer IPA gibt es das Stuttgart Exo-Jacket (SEJ), ein Exoskelett für Forschungs- und Entwicklungszwecke. Das SEJ unterstützt die oberen Extremitäten aktiv bei Hebe- und Überkopftätigkeiten. Das aktuelle System, das vom Fraunhofer IPA gezeigt wird, zielt hauptsächlich auf Anwendungen in der Logistik ab, wo Arbeiter Gegenstände wie Reifen, Kisten oder Koffer zweihändig im Bereich zwischen Knie- und Schulterhöhe vor dem Körper manuell handhaben. «Kerngedanke des Systems ist, dass die Nutzer ihre Hände weiterhin bestens bewegen können und so ihre Handhabungsfähigkeiten optimal nutzen können», beschreibt Christophe Maufroy, Gruppenleiter Physische Assistenzsysteme und smarte Sensoren am Fraunhofer IPA, die Besonderheit des SEJ. Das Stuttgart Exo-Jacket zeigt wohl, was unter einer «Einheit von Mensch und Maschine» inskünftig verstanden werden könnte …