Komplex und kost-spielig, aber wertvoll

Selbst wenn die Kosten für den Schutz vor Naturgefahren von mehreren Verbund-partnern getragen werden – ihre Summe ist beträchtlich: Knapp drei Milliarden Franken gibt die Schweiz jüngeren Schätzungen zufolge dafür jedes Jahr aus. Umso wichtiger ist es, die Mittel mit bestmöglicher Wirkung einzusetzen. Dies erfordert ein Risikomanagement, das den komplexen Zusammenhängen integral Rechnung trägt.

Komplex und kost-spielig, aber wertvoll

 

Dass der Bergsturz von Bondo vor gut zwei­ einhalb Jahren vergleichsweise glimpflich ab­ lief, ist nicht allein dem Zufall zu verdanken: Als am 23. August 2017 drei Millionen Kubik­ meter Fels vom Pizzo Cengalo wegbrachen und schwere Murgänge entlang der Bondasca in Bewegung setzten, löste das eigens instal­ lierte Überwachungssystem – Kameras, Pegel­ standsradar, Reissleine – erstmals Alarm aus. Das neu erbaute Auffangbecken mit seiner massiven Betonmauer gegen das Dorf hin er­ füllte seinen Zweck und bewahrte Bondo vor grösseren Verheerungen, die Bevölkerung konnte rechtzeitig evakuiert werden. Die Schutzmassnahmen griffen.

 

Als Gebirgsland kennt die Schweiz im Um­ gang mit Naturgefahren eine lange Tradition. Dabei sind Felsstürze und Murgänge wie im Fall Bondo bloss zwei unter zahlreichen wei­ teren Naturgefahren, die nach Definition des Bundesamts für Umwelt (BAFU) zu begreifen sind als Vorgänge in der Natur, die für Mensch, Sachwerte und Umwelt schädlich sein kön­ nen. Aufgrund von Relief, Klima und Tektonik werden für die Schweiz drei grundlegende Gefahrengruppen unterschieden: Gravitative Gefahren, zu denen Hochwasser oder Mas­ senbewegungen zählen, klimatisch-meteoro­ logische Gefahren, die u.a. Sturm, Starkregen, Hagel und Trockenheit einschliessen, sowie tektonische Gefahren, bei denen das Erd­ beben im Zentrum steht.

 

Der Schutz vor Naturgefahren ist in der Schweiz somit eine ausgeprägte Verbund­ aufgabe. Dabei geht die Aufgabenteilung zu­ nächst von den Prinzipien der Eigenverant­ wortung und der Subsidiarität aus: Während die privaten Akteure (Haushalte, Unterneh­ men, Infrastrukturbetreiber) primär für den individuellen Objektschutz zuständig sind und die Versicherungen (kantonale Gebäude­ versicherungen, private Anbieter) mögliche Schäden finanziell absichern, nimmt die öf­ fentliche Hand – unterstützt durch Forschung und Ingenieurwesen – in erster Linie die kol­ lektiven Schutz- und Vorsorgeaufgaben wahr. Dabei sind landesweite, regionale und lokale Aufgaben den Ebenen Bund, Kantone und Ge­ meinden entsprechend zugeordnet.1 Zu die­ ser föderalistischen Praxis zählt auch, dass die Lasten zwischen unterschiedlich betroffenen Regionen angemessen ausgeglichen werden.

Von der Gefahrenabwehr zum integralen Risikomanagement
Konzentrierten sich die Schutzkonzepte in der Schweiz langezeit auf die Abwehr der einzelnen Naturgefahren, hat sich in jüngerer Vergangenheit die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein wirksamer und gleichzeitig ressourcenschonender Schutz besser erreicht wird, wenn die komplexen Wechselwirkungen im Umgang mit Naturgefahren systemisch be griffen und angegangen werden. Drei Stossrichtungen sind wichtig:

 

Erstens soll der Fokus nicht mehr auf dem objektiven Naturereignis, sondern auf dem dadurch induzierten Risiko liegen. Dabei wird das Risiko (R) begriffen als Ergebnis aus der Wahrscheinlichkeit (P) eines bestimmten Ereignisses und dem möglichen Schaden (S), der wiederum aus dem Umfang gefährdeter Personen und Sachwerte (W) sowie deren Ex­ position (E) und Verletzlichkeit (V) resultiert: R = ƒ (P, S); S = ƒ (W, E, V). Daraus wird deut­ lich (für unveränderte P, E und V), dass in der Schweiz die Risiken aus Naturgefahren in den letzten Jahrzehnten allein schon deshalb ge­ stiegen sind, weil die Raumnutzung und da­ mit das Schadenpotenzial massiv zugenom­ men hat (bebaute Fläche 1985–2009: +23 %).

 

Zweitens sollen die Risiken systema­ tisch erfasst, beurteilt und gesteuert werden. Folgende Leitfragen sind massgebend: – Was kann geschehen?

 

Auf Basis wissenschaftlicher Analysen werden die relevanten Naturgefahren an­ hand ihrer­ Wahrscheinlichkeit und Intensität eruiert und bewertet.

 

Gefahrenkarten zeigen auf, welche Sied­ lungsräume und Infrastrukturen betroffen sind. Sie ermöglichen auch jene Gesamtsicht, die für risikobasierte Schutzmassnahmen, namentlich auch in der Raumplanung, essenziell ist. – Was darf geschehen?

 

Gestützt auf die Risikoanalyse wird die Toleranzschwelle festgelegt: Welches Risiko ist akzeptabel, welches ist zu hoch? Der Schutzbedarf hängt wesentlich vom Schutz­ gut ab: Sind Menschen oder hohe Sachwerte gefährdet, muss die Toleranz tiefer, das Schutzziel höher angesetzt werden. Solche Fragen sind meist kollektiv zu entscheiden, wobei die Antwort auch von der Bereitschaft des Einzelnen abhängt, Eigenverantwortung zu übernehmen. – Was ist zu tun?

 

Aus dem Schutzbedarf folgt schliesslich die Planung des Massnahmenpakets, das die Risiken unter die Toleranzschwelle führen und dabei verhältnismässig sein soll: Lokale Bedürf­ nisse oder auch Zielkonflikte werden dabei ebenso beachtet wie die ökonomische Grund­ regel, wonach die Kosten den Gesamtnutzen nicht übersteigen dürfen. Die Massnahmenpla­ nung ist immer ein Optimierungsprozess.

 

Dies führt – drittens – zu einer integra­ len Massnahmenplanung, welche die ver­ schiedenen Instrumente und Eingriffe in Kenntnis ihrer systemischen Wechselwir­ kungen optimal kombiniert: Sie erstreckt sich von der Ereignisvorbereitung (Präven­tion, Vorsorge) über die Bewältigung (Warnung, Einsatz) bis zur Regeneration (Wiederaufbau, Lernen), setzt lokale, regionale, nationale­ und bisweilen globale Handlungsebenen in Bezug und trägt gleichzeitig den Anforderungen ei­ ner nachhaltigen Entwicklung Rechnung.

 

Diese drei programmatischen Punkte markieren gleichsam den Weg zum Integra­ len Risikomanagement IRM, den die Haupt­ akteure beim Schutz vor Naturgefahren vor einigen Jahren eingeschlagen haben.

Strategie 2018: Handlungsfelder
Namhafte Fortschritte im IRM konnten in den vergangenen Jahren in diversen Handlungs­ feldern erzielt werden, so etwa bei den Gefah­ renkarten für Hochwasser und Massen­ bewegungen, bei der Vorhersage, Warnung und Alarmierung oder auch beim Schutz kri­ tischer Infrastrukturen. Im operativen Risiko­ management, das sich mit der Planung und Realisierung der einzelnen Schutzprojekte befasst, ist die Schweiz bereits seit Jahren aus­ gezeichnet aufgestellt.

 

Indes verbleiben laut Fachkreisen des Bundes im heutigen System auch einige we­ sentliche Lücken, die es in den kommenden Jahren zu schliessen gilt,2 beispielsweise im Bereich von Standards, Datengrundlagen und Modellen, die zur Quantifizierung und Abbildung der Risiken in landesweiten Über­ sichten unerlässlich sind. Nicht zuletzt des­ halb können die Effizienzpotenziale ­einer ri­ sikobasierten Massnahmen- und Ressour­ cenplanung derzeit nicht optimal genutzt werden. Dass die Risikobetroffenen selbst oft ungenügend im Bild sind über ­Naturgefahren, Risiken und individuelle Prävention, zeigt weiteren Handlungsbedarf auf, wenn alle Kräfte optimal in den Schutz vor Naturgefah­ ren eingebunden werden sollen.

 

Die aktualisierte PLANAT-Strategie 20183 geht solche und zahlreiche weitere Defizite sys­ tematisch an. Ziel ist es, die Resilienz der Schweiz, ihre Widerstands-, Regenerations-und Anpassungsfähigkeit im Umgang mit

 

Naturgefahren­ weiter zu stärken. Mit Blick auf die deutlicher hervortretenden Konturen des Klimawandels und dessen weitere Akzentuie­ rung – gerade im Gebirgsland Schweiz – kom­ men diese Anstrengungen nicht zu früh.

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