Der Mensch als dominanter Faktor im Messprozess

Am 5. September 2019 trifft sich die Welt der Messtechnik an der NTB in Buchs. Die eintägige Fachtagung bietet die Gelegenheit, sich effizient über neue Entwick- lungen in der Produktionsmesstechnik zu informieren. Die Veranstalter haben unter dem Motto «Neue Entwicklungen für die Praxis» wiederum ein spannendes Vortragsprogramm mit Referenten aus Wissenschaft und Praxis zusammengestellt.

Der Mensch als dominanter Faktor im Messprozess

Die Fachtagung Produktionsmesstechnik an der NTB in Buchs (Kanton St. Gallen) ist in- zwischen zu einem fixen Termin für Mess- technik-Spezialisten geworden. Sie findet nunmehr zum achten Mal statt und bietet ne- ben dem fachlich hochstehenden Referate- programm auch eine Fachausstellung, um direkt mit den Herstellern von Messgeräten und Anbietern von Dienstleistungen in Kon- takt zu treten. Darüber, worin die wichtigsten Trends in der Produktionsmesstechnik beste- hen, sprachen wir mit dem Veranstaltungs- leiter Prof. Dr.-Ing. Michael Marxer.

 

Produktionsmesstechnik und Industrie 4.0: Wie hängen diese Schlagworte zusammen?
Michael Marxer: Im Zentrum von Industrie 4.0 stehen das Internet der Dinge und die mit- einander interagierenden «Cyber Physical Sys- tems». Fertigungssysteme, Fertigungsprozes- se, administrative Prozesse, Engineering wer- den virtuell abgebildet, vernetzt und vollstän- dig integriert. Um Informationen über Ferti- gungssysteme und Fertigungsprozesse zu er- halten, wird Produktionsmesstechnik benö- tigt. Die Produktionsmesstechnik ist ein ent- scheidender Enabler von Industrie 4.0, indem einerseits Informationen über Einzelprozesse generiert werden, andererseits können mithil- fe der Produktionsmesstechnik Abhängigkei- ten in Wirkketten untersucht werden.

 

In den Referatethemen findet man Begriffe wie «schnell und robust», «komplex», «Ultrapräzision»: Inwiefern stimmt da der Eindruck, dass sich die Messtechnik mit immer kleineren Dimensionen bei immer höheren Geschwindigkeiten beschäftigen muss?
In Fertigungsprozessen sind zwei Trends zu beobachten. Ein Trend geht in Richtung im- mer grössere Werkstücke, welche von den Me- gatrends Energie und Mobilität hervorgerufen werden. Werkstücke wie sie z.B. für Wind- kraftanlagen oder für Flugzeugteile benötigt werden, stellen die Messtechnik vor Heraus- forderungen, die in aktuellen Forschungsvor- haben bearbeitet werden. Ein anderer Trend geht in Richtung von Werkstücken mit immer kleineren Dimensionen und häufig gleichzei- tig höherer Komplexität. Besonders bei klei- nen Werkstücken muss die Messtechnik neue Wege beschreiten, um die erforderlichen Merkmale mit hinreichend kleiner Mess- unsicherheit bestimmen zu können.

 

«Die Produktionsmesstechnik muss Informationen liefern, um Entscheide zu fällen. »

 

Um welche «neuen Wege» handelt es sich da?
Da geht es vor allem um die Dimensionen der Messköpfe. Bei taktilen Messverfahren müs- sen z.B. Tastelemente in der Lage sein, Grös- senordnungen im Nanometer-Bereich er- kennen zu können. Oder bei optischen Mess- geräten arbeiten wir mit Lichtpunkten mit immer kleineren Durchmessern. Auch die Wechselwirkungen zwischen Messsystem und Werkstück dürfen bei diesen kleinen Di- mensionen nicht ausser Acht gelassen wer- den: Eine dünne Wandstärke bei einem Werkstück darf sich durch die Berührung nicht unzulässig stark verformen.

 

Welche Rolle spielt die Automatisierung?
In der Messtechnik spielt in vielen Bereichen die Reduktion der Messzeit eine immer ent- scheidendere Rolle. Um dies erreichen zu können, ist eine Automatisierung von Mes- sungen in vielen Fällen hilfreich. Die automa- tische Bestückung von Messgeräten mit Robo- tern und/oder dem Einsatz von Palettensyste- men kann diesen Ansatz unterstützen.

 

Stichwort «Losgrösse 1»: Was bedeutet das für die Produktionsmesstechnik? Wieder zu- rück von der Produktionsanlage ins Labor?
Die Produktionsmesstechnik muss Informa-tionen liefern, um Entscheide zu fällen, wie z.B. um Fertigungsprozesse zu steuern. Nicht immer ist es aus zeitlichen oder logistischen Gesichtspunkten möglich oder sinnvoll, ein Werkstück für die Durchführung von Mes- sungen aus der Werkzeugmaschine auszu- spannen und für die Messungen in ein Mess- labor zu bringen. Um bei Losgrösse 1 wirt- schaftlich fertigen zu können, ist In-Situ- Messtechnik oder In-Prozess-Messtechnik nötig. Hier wird das Werkstück nahe oder im Fertigungsprozess gemessen.

 

Ihr Institut ist auch Dienstleister für die Industrie. Mit welchen Anfragen sind Sie derzeit am häufigsten konfrontiert?
Wir sind akkreditiert als Prüfstelle für dimen- sionelle Messungen und als akkreditiertes Ka- librierlaboratorium für Rauheit, Lehren und Referenzkörper. Wir führen für unsere Kun- den Messungen mit unseren Koordinaten- messgeräten durch und beraten diese immer häufiger bei der Festlegung von Messstrate- gien. Einen besonders spannenden Aspekt da- bei stellt die Interpretation von Konstruk- tionszeichnungen dar, bei denen wir unsere Kunden beraten und unterstützen. Dieses Themengebiet, die Geometrische Produktspe- zifikation und Verifikation, hat für uns und unsere Kunden vor dem Hintergrund der schnellen Normenentwicklung auf diesem Gebiet sehr hohe Bedeutung erlangt. Hier bie- ten wir auch Schulungen an, die helfen, An- fragen in dieser Richtung zu bearbeiten.

 

Wir haben nun über die Technik und über Geräte und ihre Dimensionierung gespro- chen. Welche Rolle spielt der Faktor Mensch?
Der Mensch ist der dominante Faktor im ge- samten Messprozess. Dies weniger im Zusam- menhang mit der Beeinflussung einer Mes- sung, sondern vielmehr in Bezug auf die Fest- legung einer gesamten Messstrategie und der Interpretation von Ergebnissen. Z.B. ist es eine entscheidende Aufgabe des Messtechnikers, die Art der Zuordnung von Geometrieele- menten in Messpunkte festzulegen, was einen entscheidenden Einfluss auf Messresultate ha- ben kann. Wenn man die Gewichtung der Fak- toren Mensch – Umwelt – Messsystem im Messprozess in Zahlen ausdrücken will, kann das Verhältnis bei 100 : 10 : 1 liegen.

 

Zur Fachtagung vom 5. September 2019: Was dürfen die Besucher erwarten?
An der Fachtagung werden wir auf die ak- tuellen Entwicklungen in der Messtechnik und die Anforderungen an die Messtechnik eingehen. Die Fachtagung ist eine Mischung aus hochkarätigen Referaten und aus einer Fachausstellung mit etwa 20 Ausstellern. Daneben bieten wir Gelegenheit, unsere Messlabors an der NTB zu besichtigen. Die vier Sessions mit je zwei Vorträgen decken

 

«Software stellt einen entschei- denden Anteil an modernen Messsystemen dar.»

 

sehr wichtige Fragenstellungen für die Pra- xis ab und geben einen Ausblick auf künftige Entwicklungen. Überlegungen zur Mess- unsicherheit und zur Beurteilung von Prüf- prozessen haben schon alle Messtechniker beschäftigt. In der ersten Session stellen wir neue, praxistaugliche Methoden zur Leis- tungsüberprüfung und -ermittlung von Messgeräten und -prozessen vor. In der zweiten Session beschäftigen wir uns mit ei-ner neuen Generation von Messsensoren zur In-Situ-Messtechnik und geben einen Ein- blick in die Möglichkeiten der Multisensorik in der Praxis. In der dritten Session werden wir zwei Referate aus dem Bereich Ultraprä- zisionsmesstechnik erleben, in denen wir einerseits den Aspekt In-Situ-Messtechnik aufgreifen und dann einen Einblick in die neuesten Entwicklungen aus dem Bereich Nanomessmaschinen haben werden. Soft- ware stellt einen entscheidenden Anteil an modernen Messsystemen dar. In der ab- schliessenden vierten Session werden wir einen Vergleich unterschiedlicher Software- Konzepte hören und in einem abschliessen- den Vortrag einen Einblick in Messtechnik in einem Schweizer Hochgeschwindigkeits- zug.

 

Ihr Blick in die Zukunft: Gibt es eine Grenze des Messbaren?
Wir werden in den Vorträgen hören, bis zu welchen Genauigkeiten es heute schon möglich ist, Messungen durchzuführen. Wir werden ebenfalls neue, vielverspre- chende Ansätze zur weiteren Leistungsstei- gerung von Messsystemen und Messpro- zessen kennenlernen. Bei der Diskussion um die Grenze des Messbaren spielen die Vergleichbarkeit und die Rückführung von Messresultaten eine entscheidende Rolle. Die Herausforderung, normale zur Verfü- gung zu haben, die wirtschaftlich herstell- bar und kalibrierbar sind, ist bei dieser Dis- kussion entscheidend.

 

Oder müsste man besser fragen:
Wie viel Messbarkeit ist für die Praxis in der Produktion sinnvoll?
Um rationale und ausreichend sichere Ent- scheidungen fällen zu können, ist es günstig, eine möglichst gute Datenbasis zu haben. Dies bedeutet, dass die für die Entscheidung ver- wendeten Informationen in ausreichender Menge vorliegen müssen und ausreichend zu- verlässig sein sollen. Am Beispiel einer Produk- tionssteuerung heisst dies, dass eine Prozess- beurteilung umso genauer erfolgen kann, je kleiner die Unsicherheit ist, mit der dieser Pro- zess betrachtet wurde. Wird die Messtechnik verwendet, um Spezifikationen zu überprü- fen, muss die Messunsicherheit jeweils gegen den Beweisführenden berücksichtigt werden. Auch hier lässt sich deshalb der Zusammen- hang ableiten: Je kleiner die Messunsicherheit, desto mehr Werkstücke können als Gutteile klassifiziert werden.

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