Risk Management versus «Mensch»

Wirtschaftspsychologie Forschungsergebnisse der letzten Jahrzehnte zeigen auf, dass Risk-Management-Aktivitäten anfällig sind für kognitive und gruppenspezifi- sche Verzerrungen. Entscheidungsträger überschätzen einige Risiken und unter- schätzen, wenn nicht sogar übersehen, andere. Welche dieser Verzerrungen müssen Risk Manager und Entscheidungsträger verstehen? Und wie lassen sich diese in der Praxis wirkungsvoll reduzieren?

Risk Management versus «Mensch»

Die Identifizierung und Beurteilung von Risi­ ken sind zwei wichtige Teilprozesse, mit de­ nen sich alle mit Risk Management betrauten Personen in Unternehmen beschäftigen. Da­ rauf basierend, können sie Empfehlungen an die Unternehmensleitung abgeben, ob ein oder mehrere Risiken innerhalb der Tole­ ranzgrenzen liegen und wie zu reagieren ist, um die Eintrittswahrscheinlichkeit und/oder den potenziellen Schaden auf ein akzeptables Mass zu reduzieren.

 

Allerdings bestehen in den einzelnen Prozessschritten erhebliche «kognitive Stol­ perfallen» wie bspw. durch offensichtliche Bedrohungen, die aber nicht die nötige Auf­ merksamkeit erhalten (z.B. Gefahr durch Cyberattacken, Abhängigkeit von Öl­ und Stromzulieferern). Stattdessen wird oft viel Energie in die Identifizierung und Beurtei­ lung «schwarzer Schwäne» gesteckt, die per Definition nicht vorhersehbar sind (vgl. Wu­ cker, 2018). Dieser offenbare Widerspruch lässt sich nicht rational erklären, sondern liegt vielmehr in der Art und Weise, wie Menschen Risiken wahrnehmen.

Verzerrte Szenarien
Neben allem technischen Know­how ist si­ cher: Ein moderner Risk Manager muss nach­ vollziehen können, wieso Menschen auf eini­ ge Risiken (über­)reagieren, währenddem sie andere, objektiv betrachtet wichtigere Risi­ ken ignorieren. Dieses menschliche Verhal­ ten zu verstehen und darauf Einfluss zu neh­ men, ist in der Regel entscheidender für ein effektives Risk Management als die Anwen­ dung fortgeschrittener Bewertungsmetho­ den. Bei kritischen Risikoabwägungen stüt­ zen sich Entscheidungsträger häufig auf eine Kombination aus Daten, Wissen und Erfah­ rung. Ob bewusst oder nicht, das Gehirn ver­ lässt sich dabei auf unbewusste psychologi­ sche Vorurteile. In der Entwicklung des Men­ schen haben diese als Schutzmechanismus gedient und eine für das Überleben essenziel­ le Bedeutung erlangt. In der heutigen kom­ plexen Welt können solche Verzerrungen, wenn sie nicht aktiv gesteuert werden, selbst zum Risiko für Unternehmen werden.

 

Wenn Risiken mehr oder weniger wahr­ scheinlich erscheinen, als sie in Wirklichkeit sind, dann kann dies ein Indiz für kognitive Verzerrungen sein. Letztere beeinflussen die Risikobeurteilung und haben damit wesentli­ che Auswirkungen auf die Erstellung und Ab­ schätzung von Risikoszenarien in Unterneh­ men. Verzerrte Szenarien wiederum können Entscheidungsträger dazu bringen, subopti­ male oder gar fatale Entscheidungen unter Un­ sicherheit zu treffen. Die Anzahl der bisher be­ kannten kognitiven und gruppenspezifischen.

 

Verzerrungseffekte ist riesig – je nach Quelle liegt sie bei weit über 100 (vgl. z.B. Shefrin, 2016). Ein erheblicher Teil davon spielt auch im Rahmen des Risk­Management­Prozesses eine wichtige Rolle. Oftmals wird in der Praxis je­ doch wenig Aufmerksamkeit darauf gelegt, ob­ wohl viele dieser Effekte bekannt sind. Einige aus Sicht der Autoren zentrale Verzer­ rungseffekte fasst Abbildung 1 zusammen.

Unterschiedliche Strategien
Eine der am weitesten verbreiteten kognitiven Verzerrungen ist die Verfügbarkeitsheuristik. Im Kontext der Risikoidentifikation bedeutet dies, dass sich Entscheidungsträger auf nahe­ liegende Risiken, die ihnen als Erstes in den Sinn kommen, fokussieren. Haben Teilneh­ mende von Risiko­Workshops kürzlich Erfah­ rungen mit einem Risiko gemacht, sind diese Risiken präsenter (verfügbarer) als andere und werden deshalb oft als relevanter eingestuft. Zudem kann die Medienpräsenz von be­ stimmten emotional bedeutenden Ereignis­ sen grossen Einfluss auf die Risikoauswahl ha­ ben und von unspektakulären Ereignissen mit hohem Schadenpotenzial ablenken.

 

Das sogenannte hyperbolische Diskon­ tieren wirkt in Situationen, in denen sich Ent­ scheidungsträger zwischen kurzfristigen Vor­ teilen und langfristigen Zielen entscheiden müssen. Häufig verleiten Anreize wie eine vierteljährliche Berichterstattung dazu, kurz­ fristige Finanzzahlen zu priorisieren (vgl. Wu­ cker, 2018). So werden anstehende Entschei­ dungen verschoben oder sinnvolle Investitio­ nen, die kurzfristig den finanziellen Leis­ tungsausweis beeinträchtigen, nicht getätigt. Ebenso besteht die Gefahr, dass wichtige Massnahmen aus dem Risk Management, die Ressourcen binden und erst langfristig ihre Wirkung entfalten, aufgeschoben werden.

 

SpeziellzuerwähnensindGruppensitua­ tionen wie z.B. Geschäftsleitungssitzungen, in denen Verankerungseffekte und Autoritäts­ vorurteile die Sichtweise von Mitgliedern er­ heblich beeinflussen können. Auch kulturelle Unterschiede in der Gruppenzusammenset­ zung spielen in solchen Situationen eine ent­ scheidende Rolle. Zum einen ist es denkbar, dass eigene Überzeugungen des Konsens wil­ len dem Vorsitzenden angepasst werden, oder zum anderen, dass frühzeitig präsentierten Informationen mehr Gewicht verliehen wird (vgl. Montibeller & von Winterfeldt, 2015).

 

Nun stellt sich die Frage, wie sich solche Verzerrungen in der Praxis reduzieren lassen. Dazu existieren unterschiedliche Strategien, die je nach gelebter Unternehmenskultur mehr oder weniger erfolgversprechend sind. Aus generischer Sicht stellen die in Abbildung 2 aufgelisteten Schritte erste Massnahmen für verzerrungsfreiere, risikobasierte Entscheide dar. In dieser Hinsicht erscheint es wichtig, dass auch unter «heissen» emotionalen Be­ dingungen, d.h. in einem turbulenten Umfeld oder in Situationen unter Zeitdruck, die Stra­ tegien zu befolgen sind.

 

Um den dargelegten Verzerrungen des Gruppendenkens vorzubeugen, gilt es, Kon­ textfaktoren zu berücksichtigen und die Pro­ zesse darauf anzupassen. So fördert z.B. die ge­ lebte Diversität eines Gremiums strukturierte Debatten und konstruktive Meinungsverschie­ denheiten. Die Grösse von fünf bis acht Teil­ nehmenden verhindert ein Sich­Verstecken­ in­der­Gruppe und lässt zu, dass alle Mitglieder ihre Meinung kundtun können, bevor eine Be­ wertung und Selektion vorgenommen wird.

Entscheidungen treffen
Anonymisierte Meinungsabfragen zu Beginn von Gruppensitzungen helfen zudem dabei, wahrheitsgetreuere Ansichten über Risiken zu generieren. Die gesammelten Eingaben er­ möglichen eine weniger von den erwähnten Verzerrungen beeinflusste Entscheidungs­ findung (vgl. Montibeller & von Winterfeldt, 2015). Um Konformität in der Gruppe zu ver­ hindern, kann es schliesslich sinnvoll sein, ein Gruppenmitglied zu bestimmen, das im Sinne eines kritischen Gegengewichts alle Entscheide objektiv begründet infrage stellt.

 

Technologische Fortschritte, daraus er­ zeugte Daten und verbesserte Analyse­ methoden ermöglichen eine erweiterte Risi­ koanalyse. Dazu zählen z.B. die verbesserte Identifikation von Trends, eine präzisere Ri­ sikobewertung sowie die Etablierung eines umfassenden Frühwarnsystems (vgl. Romei­ ke, 2017). Die Entscheidungsfindung von Un­ ternehmen wird dadurch jedoch nicht per se objektiver, denn der Entscheidungsträger ist letztlich immer noch gleich anfällig für Ver­- zerrungen, unabhängig von der verwendeten zerrungen, unabhängig von der verwendeten.

Objektive Lösungsfindung
Die zugrunde liegenden Modelle werden nämlich durch Menschen selbst erstellt. Hin­ zu kommt, dass die Interpretation der Daten, auf deren Grundlage kritische Risikoent­ scheidungen getroffen werden, zahlreichen potenziellen Verzerrungen unterliegt (z.B. durch die Bestätigungsverzerrung oder Kon­ servatismus). Schliesslich weisen Risikodaten nicht selten eine mangelhafte Qualität auf, weshalb Menschen in der Selektion und Auf­ bereitung eine zentrale Rolle einnehmen.

 

Die Frage besteht nicht darin, ob psycho­ logische Verzerrungen* im Risk Management existieren, sondern, wie diese erkannt und ef­ fektiv verringert werden können. Das konkre­ te Aufzeigen und Verstehen des menschlichen Risikofaktors ist hierbei von entscheidender Bedeutung. Erst wenn die einzelnen Entschei­ dungsträger die Verzerrungen selbst erken­ nen, wird klar, wo ein Unternehmen überall gefährdet ist. Mit diesem Wissen können in der Folge wirksame Massnahmen zur Redu­ zierung der Verzerrungen umgesetzt werden, um Krisen zu verhindern oder zumindest da­ raus verursachte Schäden zu verringern.

 

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