Alte Dame mit jungen Gedanken: Die Schweizerische Normen-Vereinigung SNV

Normen prägen heute unsere Industrie: Der vorliegende Artikel zeichnet das "Gründungskapitel" der Geschichte der SNV nach. Denn die Schweizerische Normen-Vereinigung SNV darf 2019 ihr 100-jähriges Bestehen feiern.

100 Jahre Schweizerische Normen-Vereinigung: Blick auf die Gründungsurkunde von 1919. (Bild: zVg / SNV)

Bereits zwanzig Jahre vor der Gründung einer Normenorganisation in der Schweiz finden erste Bemühungen statt, um allgemein gültige Regeln zu definieren. So verhandeln 1898 in Zürich Vertreter mehrerer Länder über die Normung für ein metrisches Schraubengewinde.

Branchenübergreifendes Bedürfnis nach Standards

Im Juli 1919 wird in Baden der Schweizerische Normalien-Bund gegründet, dessen Namen einige Jahre später auf die noch heute gültige Bezeichnung Schweizerische Normen-Vereinigung (SNV) geändert wird. Die erste Zusammenkunft erfolgt auf Initiative des Vereins Schweizerischer Maschinenindustrieller (VSM) mit dem Ziel, sich über das Bedürfnis einer gemeinsamen Normungsarbeit auszutauschen.

Wichtige Rolle auf dem internationalen Parkett

Auch auf internationaler Ebene kommt der Schweizer Normungstätigkeit schon früh eine grosse Bedeutung zu. Bereits 1926 sind Normenfachleute aus der Schweiz bei der Gründung der International Federation of National Standardizing Associations (ISA) involviert. Mit Curt Hoenig stellt die Schweiz von 1928 bis 1931 den ersten Präsidenten der ISA, aus der rund 20 Jahre später die heutige International Organization for Standardization (ISO) hervorgeht.

Nach dem Zweiten Weltkrieg ist die Schweiz Gründungsmitglied der ISO, die ihren Sitz in Genf ansiedelt. Im Jahr 1947 berichtet die Neue Zürcher Zeitung, dass «… diese Beschlüsse die Wertschätzung bezeugen, die unserem Land und im Besonderen der schweizerischen Normung in internationalen Kreisen entgegengebracht wird.» Auch als 1961 das Europäische Komitee für Normung unter dem Namen Comité Européen de Normalisation (CEN) gegründet wird, erfolgt die Grundsteinlegung in Zürich.

Organisation nach fachspezifischen Normen

Im Jahr 1962 wird die SNV als Verein konstituiert, und rund zehn Jahre später entspricht ihre Struktur und Arbeitsweise der heutigen Organisation nach Fachbereichen. Heute gliedert sich die SNV in die folgenden sieben Fachbereiche

  • Interdisziplinärer Normenbereich (INB)
  • Maschinen-, Elektro- und Metallindustrie (SWISSMEM)
  • Bauwesen (SIA)
  • Strassen- und Verkehrswesen (VSS)
  • Uhrenindustrie (FH)
  • Elektrotechnik (Electrosuisse)
  • Telekommunikation (asut)

SNV: Alte Dame mit jungen Anliegen

Wer glaubt, die 100-jährige SNV sei in die Jahre gekommen, kennt ihre neuesten Aufgaben nicht. Sie hat in den letzten zehn Jahrzehnten stets mit den Anforderungen der verschiedenen Branchen Schritt gehalten und sieht auch heute ihre Hauptaufgabe in der Normung. Schweizerische, europäische und internationale Normen werden in direkter Zusammenarbeit mit den Anwendern erarbeitet. So ist gewährleistet, dass die Richtlinien für Wirtschaft und Gesellschaft, für Produzenten und Konsumenten dauerhaften Nutzen generieren sowie Sicherheit geben. Dieser für alle zugängliche Normungsprozess eignet sich für sämtliche Lebensbereiche. Und da sich unsere Welt ununterbrochen weiterentwickelt, bleibt auch die SNV absolut jung im Geist und beschäftigt sich beispielsweise aktuell mit Themen wie Industrie 4.0, Smart-Technologien, Blockchain, Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

Die SNV gewährleistet als Informationsdrehscheibe und unabhängiges Kompetenzzentrum den effizienten Zugang zu nationalen und internationalen Normen. Sie ermöglicht und fördert die Erarbeitung und Harmonisierung neuer Normen durch die aktive Einflussnahme ihrer Mitglieder als Expertinnen und Experten in nationalen und internationalen Normengremien.

 

Die wohl bekannteste Norm betrifft die Papierformate nach DIN. (Bild: zVg / SNV)

DIN A4 – Die Norm aller Normen

Jedes Schulkind kennt heute das Papierformat A4, das in jeden Drucker, jedes Couvert und jeden Ordner passt. Dass dahinter eine längere Entwicklungsgeschichte steckt, ist wenig bekannt.

Vor hundert Jahren ist die Frage zum Format von Briefpapier weltweit ungelöst. Der Ruf nach einem einheitlichen Papierformat wird lauter, aber die Vielzahl an bestehenden Formaten erschwert eine Vereinheitlichung. Im Gründungsprotokoll des Schweizerischen Normalien-Bundes von 1919 ist festgehalten, dass «… das am meisten vorkommende und überall in die Registratoren passende Briefformat 220 mm × 280 mm gewählt wird.»

Der entscheidende Schritt erfolgt 1922 in Deutschland, als der Ingenieur Walter Porstmann die Idee des konstant bleibenden Seitenverhältnisses verbreitet und schliesslich als DIN-Norm durchsetzt. Ausgangsmass für die Papierformate ist DIN A0 mit einer Fläche von einem Quadratmeter. Alle anderen Formate leiten sich davon durch Halbieren oder Verdoppeln der Fläche ab, sodass ein konstantes Seitenverhältnis von 1 : √2 entsteht. Daraus ergibt sich schliesslich auch das DIN-A4-Format 210 mm × 297 mm.

Der VSM folgt dem deutschen Beispiel und übernimmt das Format A4 für Geschäftspapiere unter der Bezeichnung «VSM-Briefformat». Die Post vereinheitlicht ebenfalls ihre Papierformate, und 1924 entscheidet der Bundesrat, die neuen Formate in der Bundesverwaltung als Standard einzuführen. Die Übergangszeit, bis die bestehenden Vorräte und Formulare aufgebraucht sind, dauert zwölf Jahre. Als Anfang 1941 die Rohstoffe wegen des Krieges knapp werden, erlässt das Kriegsindustrie- und Arbeitsamt des Bundes eine Verfügung zur ausschliesslichen Produktion von Fertigpapieren aus der A-Reihe. Mit diesem Beschluss etabliert sich das DIN-Format in der Schweiz endgültig als Normalformat. (Quelle: Philipp Messner, Die Normung der Papierformate in der Schweiz)

 

Dr. Hans Zürrer, Direktor der Schweizerischen Normen-Vereinigung von 1987 bis 1999. (Bild: zVg / SNV)

«Do it once, do it right, do it internationally

Dr. Hans Zürrer war von 1987 bis 1999 Direktor der SNV. In einem kurzen Gespräch, das wir mit ihm im Rahmen unseres Jubiläumsjahres führten, erinnert er sich an einige Höhepunkte und Episoden aus seiner Amtszeit.

Herr Zürrer, welches war für Sie die speziellste Norm, an der die SNV während Ihrer Zeit als Direktor arbeitete?

Die 9000-er Normen der ISO zur Qualitätssicherung und anschliessenden Prüfung und Zertifizierung wurden in dieser Zeit erarbeitet. Diese neue wichtige Normenserie, die einen grossen Einfluss auf das Qualitätsmanagement in allen Branchen hatte, ist heute nicht mehr wegzudenken. Alle, die damals daran gearbeitet haben, waren sehr engagiert und gefordert. Nicht zuletzt, weil zahlreiche neue Begriffe in die drei ISO-Sprachen übersetzt werden mussten und für die Übernahme in der damaligen EG zusätzlich ins Deutsche.

War es für Sie jeweils einfach, Aussenstehenden die Aufgaben der SNV zu erklären?

Nein, das war und ist immer noch nicht einfach. Besonders herausfordernd ist es, wenn diese «Aussenstehenden» die Vorgesetzten der Normenschaffenden sind. Denn für die Normungsarbeit braucht es vor allem auch Verständnis für die Freistellung und Finanzierung der ehrenamtlich tätigen Experten. Zudem werden auch für die Infrastruktur, also für die Organisationen SNV, CEN und ISO, finanzielle Mittel benötigt. Besonders schwierig ist es dann, wenn der Abbau technischer Handelshemmnisse für gewisse Produkte und Branchen nicht offensichtlich ist. Für Vermittlungs-Gespräche wurde oft der Direktor beigezogen.

Auch brauchte es grosse Anstrengungen, bis der Schweizer Staat durch das damalige BAWI (heute SECO) den Abbau technischer Handelshemmnisse für die Schweizer Exportindustrie als wichtig erkannte und die SNV mit einem Mandat unterstützte. Die Schweiz war bis dahin das einzige Mitglied der ISO, das nicht staatlich mitfinanziert wurde.

Wie war die Haltung der Normen-Fachleute zum Schweizer EWR-Nein?

Wenige Jahre davor war ich Mitglied der Präsidenten-Gruppe von CEN, CENELEC und ETSI und hatte regen Kontakt mit Kaderleuten der EU und Regierungsvertretern. Das EWR-Nein kam unerwartet und wurde allgemein als Absage der Schweiz an Europa verstanden. Auf die Normungsarbeit in Europäischen Gremien hatte es allerdings wenig Einfluss. Der Abbau technischer Handelshemmnisse behielt für die Schweiz als EFTA-Mitglied unverändert hohe Priorität. Für die exportorientierte Wirtschaft und diverse politische Instanzen wäre allerdings vieles einfacher geworden.

Was haben Sie an der internationalen Zusammenarbeit am meisten geschätzt?

Den Direktoren der nationalen Normen-Organisationen blieb vorwiegend der Einsatz in Lenkungsgremien vorbehalten. Internationale Konferenzen ermöglichten das Zusammentreffen nicht nur der Normenchefs untereinander, sondern auch mit den Regierungsdelegierten und den Repräsentanten von Industrie und Wirtschaft. Aus persönlichen Bekanntschaften entstanden viele nützliche Beziehungen und auch Freundschaften, die über die Pensionierung andauern. Damit verbunden waren natürlich auch Reisen, mit den bekannten Vor- und Nachteilen.

Das gemeinsame Engagement von Technik, Wirtschaft und Politik und die Erarbeitung von Konsens haben mich immer wieder beeindruckt. Es galt der Grundsatz, dass zum gegebenen Zeitpunkt zwar nicht immer alle dafür sein konnten, aber keiner dagegen.

Hatten alle Länder das gleiche Verständnis für die Bedürfnisse der internationalen Normung?

Grosse Länder verfügen meist über ein umfangreiches Normenwerk und entsprechende Ressourcen. Sie sind auch tonangebend in der Normungsarbeit und versuchen, ihre nationalen Interessen auf regionaler und internationaler Ebene durchzusetzen. Das Streben nach dem grösstmöglichen gemeinsamen Nenner stärkt aber auch die internationale Normungsarbeit nach dem Motto «Do it once, do it right, do it internationally!».

Eine weitere Besonderheit auf europäischer Ebene war der von der EU-Kommission geschaffene «New Approach», die «Neue Konzeption». Sie hat zum Ziel, die technische Harmonisierung sowohl bei der Normung als auch bei den behördlichen Vorschriften zu koordinieren. Behördliche Verordnungen enthalten nur noch grundlegende Anforderungen bezüglich Gesundheit, Umwelt und Sicherheit und verweisen dafür auf Normen, in welchen die technischen Details durch die bewährte privatwirtschaftliche Normung festgelegt werden. Nach erfolgter Verabschiedung durch qualifizierten Mehrheitsentscheid sind die Mitgliedsländer der EU und der EFTA verpflichtet, widersprüchliche nationale Vorschriften oder Normen zurückzuziehen. Der Verweis auf internationale Normen bestärkte wiederum die Devise: «Do it once, do it right, do it internationally!».

Weitere ISO-Mitglieder haben sich für die Idee des «New Approach» interessiert und durch Mandate der EG-Kommission wurden Experten delegiert. In totalitären Staaten bedeutete die neue Konzeption eine völlige Abkehr vom Status quo, indem dort auch die Normung nicht privatwirtschaftlich organisiert war. Ich erinnere mich an entsprechende ISO-Missionen in Russland, China, Kolumbien sowie bei den osteuropäischen Kandidaten zur EU-Mitgliedschaft. Besonders beeindruckend war der Besuch in Moskau beim sowjetischen ISO-Mitglied. Mein russischer Kollege war Chef eines Ministeriums und hatte die Verantwortung über mehrere Tausend Angestellte. Abgesehen vom riesigen Land mit zahlreichen Zweigstellen, waren dort alle relevanten Amtsstellen, alle Fachbereiche der Normung, der Zertifizierung, der Prüfung, der Metrologie, der Telekommunikation etc. unter einem Hut.

Gibt es eine Episode oder Anekdote aus Ihrer Zeit als Direktor, die Sie besonders gerne erzählen?

Unmittelbar nach dem EWR-Nein fand eine CEN-Sitzung in Brüssel statt. Da mein Flug verzögert war, kam ich etwas zu spät an die Sitzung und der Vorsitzende hänselte: «Wir haben gedacht, du kommst nun gar nicht mehr!» Natürlich wurde in der Pause rege darüber diskutiert und besonders das Ständemehr musste immer wieder erläutert werden. Auch der damalige EG Kommissions-Präsident Bangemann hat sich sehr dafür interessiert, vor allem, weil ich ihm vorher meiner Überzeugung Ausdruck gab, dass der EWR sicher angenommen werde.

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