Der digitale Zugriff auf die Krankenakte
Zögerlich kommt Bewegung in die Sache: Die Bevölkerung kann in einzelnen Regionen der Schweiz ein elektronisches Patientendossier eröffnen. Dahinter steckt ein aufwendiges Verfahren mit hohen Anforderungen an den Datenschutz und die Datensicherheit. Nicht zufrieden ist der Berufsverband der Schweizer Ärzte mit dem digitalen Tool.
In diesem Frühjahr hat der Aargau als erster Kanton der Schweiz das elektronische Patientendossier (EPD) eingeführt: Seit Anfang Mai können interessierte Einwohner ein EPD eröffnen. Wer seine Gesundheitsakte in Zukunft digital erfasst haben möchte, muss hier zur Poststelle, denn diese stellt die technische Plattform zur Verfügung und gleist die digitale Patientenakte auf. Am Schalter erhält man eine persönliche Patientenidentifikationsnummer, um gefährliche Verwechslungen zu vermeiden. Bis heute ist dies allerdings nur auf der Hauptpoststelle Aarau und in Baden möglich. Bis Ende Jahr sollen zwei weitere Standorte – Muri und Rheinfelden – dazukommen, verspricht die Stammgemeinschaft eHealth Aargau (SteHAG). Ziel sei es, dass später auch Akutspitäler, Rehakliniken, Psychiatrien und andere Gesundheitseinrichtungen sowie Praxisärzte und Apotheken ein EPD für Patienten eröffnen können, sagt Arthur Immer, Projektmanager bei der SteHAG, die hinter dem Projekt steht. Ihr sind über 80 Aargauer Leistungserbringer des Gesundheitswesens angeschlossen. Die SteHAG koordiniert und erarbeitet die organisatorischen und technischen Grundlagen für die elektronische Patientenakte, welche im Aargau unter dem Namen «emedo – Mein elektronisches Gesundheitsdossier» umgesetzt wird. Im letzten November hat die Organisation als erste überhaupt die EPD-Zertifizierung erhalten.
Auch Südost- und Westschweiz machen vorwärts
Auch in der Südostschweiz kommt man dem EPD näher. Der Verein eSanita hat ebenfalls die erfolgreiche EPD-Zertifizierung der KPMG AG seit Ende 2020 in der Tasche. eSanita umfasst die EPD-Versorgungsregion mit den Kantonen Graubünden, Glarus, St. Gallen, Appenzell Inner- und Ausserrhoden. Die Bürgerinnen und Bürger können, so alles planmässig verläuft, ab Herbst 2021 in 24 Spitälern und Kliniken sowie an rund 20 Poststellen in den fünf Kantonen ihr persönliches EPD mit dem dazugehörigen zertifizierten Log-in kostenlos einrichten lassen, wie eSanita verspricht.
In der Westschweiz ist der Verband Cara mit den Kantonen Freiburg, Genf, Jura, Waadt und Wallis für das EPD zuständig. Auch dieser Verband verfügt seit wenigen Monaten über eine Zertifizierung. Deshalb kann hier seit Ende Mai jede Person mit ihrer AHV-Nummer – sie ist nur bei der Eröffnung zusammen mit einem Ausweis vorzuweisen – ein solch digitales Dossier anlegen. In der Westschweiz ist dies laut Cara momentan nur online möglich. Später würden die Mitgliedskantone Eröffnungsstellen nach ihren eigenen Strategien einrichten. Laut Angaben haben in den ersten zwei Wochen nach dem Start rund 370 Personen von der Möglichkeit Gebrauch gemacht. Verschiedene weitere Organisationen befinden sich derzeit im Zertifizierungsverfahren, wie man von der Kompetenz- und Koordinationsstelle von Bund und Kantonen, eHealth Suisse, erfährt. Einwohnerstarke Kantone wie Zürich und Bern müssen sich noch etwas gedulden: Im Zertifizierungsprozess der entsprechenden XAD-Stammgemeinschaft, die das Einzugsgebiet von 14 Kantonen umfasst, gab es Komplikationen. Erste digitale Gesundheitsakten werden die Einwohner in diesen Kantonen punktuell wohl erst im nächsten Jahr eröffnen können.
Welche Vorteile?
Herr und Frau Schweizer können alle gesundheitsrelevanten Unterlagen, die sie möchten, in ihrem elektronischen Patientendossier ablegen. Doch durch Gesundheitsfachpersonen werden nicht alle elektronisch erfassten Gesundheitsinformationen, sondern nur diejenigen, die für andere Fachpersonen und für die weitere Behandlung relevant sind, im EPD erfasst. Neben dem EPD führen die Gesundheitsfachleute für ihre Patienten aber weiterhin eine persönliche Krankengeschichte. Diese enthält weit mehr Informationen als das EPD.
Die Vorteile einer digitalen Lösung zeigen sich spätestens auch in diesem Fall: Wird jemand mit Blaulicht ins Spital gebracht, muss es unter Umständen sehr schnell gehen. Der behandelnde Arzt greift auf das EPD des Verunfallten zu und verschafft sich damit rasch einen Überblick über die Gesundheitssituation und allfällige Kontraindikationen des Patienten. Damit gewinnt der Mediziner vielleicht entscheidende Minuten – oder verhindert Fehlentscheide, weil ihm der nicht mehr ansprechbare Patient wichtige Informationen nicht mitteilen kann. Welche Dokumente und Daten im EPD gespeichert werden, entscheidet immer der Patient, so steht es im Bundesgesetz über das elektronische Patientendossier. Er kann Dokumente, aus welchen Gründen auch immer, im EPD löschen. Ihm obliegt die Hoheit seiner Patientenakten, wie das übrigens auch im analogen Fall so ist.
Mit der digitalen Lösung können Behandelnde unabhängig von Ort und Zeit rasch auf alle wichtigen Gesundheitsinformationen einer Person zugreifen. Das EPD soll letztlich dazu beitragen, dass die Behandlungen qualitativ besser, der Behandlungsprozess effizienter und nicht zuletzt auch kostengünstiger wird.
Kritik der FMH-Ärzte
Der Berufsverband der Schweizer Ärzte, die FMH, ist alles andere als glücklich über die heutige Lösung. «In seiner jetzigen Form ist das EPD für die Ärztinnen und Ärzte noch kaum praxistauglich und dürfte hohen Mehraufwand generieren», liess die Organisation Anfang Mai verlauten. Aufgrund seiner gesetzlich vorgegebenen Architektur handle es sich beim EPD um ein statisches Gefäss, das auf die Speicherung von Dokumenten ausgelegt sei. Die Unterstützung weiterer Prozesse im medizinischen Behandlungsalltag, beispielsweise das Erstellen einer elektronischen Verordnung oder der Zusammenzug einer Übersicht über die bisherige und aktuelle Medikation eines Patienten, sei momentan nicht möglich.
«Zum jetzigen Zeitpunkt ist das EPD noch nicht in der Lage, die Prozesse einer medizinischen Behandlung abzubilden oder massgeblich zu unterstützen», so die Kritik. Ferner bemängelt die FMH, dass das EPD derzeit nicht als Kommunikationsinstrument für Gesundheitsfachpersonen geeignet sei, da es keine direkte Kommunikation mit anderen Gesundheitsfachleuten zulasse. Ob die Kritik der FMH-Ärzte berechtigt ist oder nicht, sei dahingestellt. Eine passende Antwort liefert wohl Arthur Immer von der eHealth Argau, wenn er sagt: «Die Aufgleisung des Grundsystems ist ein Schritt in die richtige Richtung. Jetzt können die Weiterentwicklungen starten.»
Wer hat Zugriff auf das Dossier?
Wie für die analoge Krankenakte gilt auch für das freiwillige elektronische Patientendossier: Was darin abgelegt ist, sind äusserst sensible Informationen. Deshalb muss klar geregelt sein, wer wann zugreifen kann. Das bestimmt allein der Patient und das ist entsprechend im Bundesgesetz so geregelt. Für jedes einzelne Dokument kann der Inhaber des EPDs zwischen drei Vertraulichkeitsstufen wählen: «Normal zugänglich», «Eingeschränkt zugänglich» und «Geheim». Auf Letzteres hat nur der Patient Zugriff, nicht aber der Arzt – auch nicht im Notfall. Selbst eine «schwarze Liste» kann man für seine Gesundheitsakte anlegen. Das heisst, einzelne, namentlich genannte Gesundheitsfachkräfte kann der Patient vom Zugriff ausschliessen. Versicherungen, Arbeitgebende und der Staat haben selbstverständlich keinen Zugriff auf das EPD einer Person.
Auch mit dem Konzept der Zugriffsrechte ist die FMH nicht zufrieden. Für die am EPD beteiligte Ärzteschaft bedeute dies, dass sie – ausser in einer Notfallsituation – bei fehlenden Zugriffsrechten nicht auf die Dokumente von Patienten zugreifen kann. Das Konzept umfasse die Festlegung von Vertraulichkeitsstufen für einzelne Dokumente oder Dokumenttypen und für Gesundheitsfachpersonen oder Gruppen von solchen Fachpersonen. «Die daraus möglichen Kombinationen von Optionen für die Erteilung von Zugriffsrechten sind entsprechend komplex und dadurch anfällig für Fehler. Für Patientinnen und Patienten wird es so bei einem grösseren Behandlungsteam schwierig, den Überblick zu behalten und zu sehen, welche Gesundheitsfachperson sie noch zum Zugriff berechtigen sollten und möchten», betont der Berufsverband.
Das Interesse an Gesundheitsdaten ist gross, denn die Daten sind das neue Gold. Für elektronische Patientenakten ist deshalb nur der höchste Sicherheitsstandard gut genug. Wie wird dies sichergestellt? Mehr dazu erfahren Interessierte hier https://bit.ly/3q6LSa2
Was sagt das eHealth-Barometer?
Das Swiss eHealth Forum hat erneut alle relevanten Akteure der Gesundheitsbranche zu eHealth in der Schweiz befragt. Thema ist auch das elektronische Patientendossier (EPD). Zwar habe sich die Einführung verzögert, doch konnten einige Spitäler mit dem EPD erste Erfahrungen sammeln, schreibt das Forum. Das «Swiss-eHealth-Barometer» 2021 zeige, dass die Nutzung des EPDs die ursprüngliche Euphorie hemme. Gestützt auf die Umfrage finden 52% der IT-Verantwortlichen in den Spitälern das EPD eine eher gute oder sehr gute Sache – damit sinkt die Zustimmung um 17% gegenüber der letzten Befragung. Bei den anderen Gesundheitsfachpersonen werde das EPD aber weiterhin als überwiegend gute Sache wahrgenommen, so das Forum. Mit 83% sei die Unterstützung für die EPD-Einführung bei der Spitalärzteschaft hoch.
Bei den Befragten, die nicht verpflichtet sind, ein elektronisches Patientendossier anzubieten, befürworten insbesondere die Apotheker (79%) die Einführung, aber auch die Spitex-Leute (71%) findet daran Gefallen. Relativ gering ist dagegen die Unterstützung bei den Praxisärzten (54%).
Gemäss Befragung steigt die Bekanntheit der elektronischen Krankenakte bei der Bevölkerung, die Zustimmung ist hoch: 80% finden es eine eher gute bis sehr gute Sache. Das EPD ist laut Swiss eHealth Forum insgesamt in einer kritischen Einführungsphase. Ausbildungen könnten hier einen wichtigen Beitrag leisten. 75% der Spitalärzte wünschen für sich oder ihre Angestellten eine Ausbildung im Bereich eHealth.
Für weitere Informationen: www.e-healthforum.ch/studienergebnisse-2021
Weitere Themen hier: Allianz «Digitale Transformation im Gesundheitswesen» gegründet